"Vienna"

Rezensent: Rainer Moritz · 17.03.2005
Literarische Debüts sind meist nette Talentproben oder anmaßende Versuche, die Weltliteratur mit einem Schlag zu erobern. Selten geht von ihnen eine Kraft aus, die den Eindruck erweckt, man habe es bereits mit versierten, unaufgeregten Erzählern zu tun.
Eva Menasses "Vienna" ist ein solcher Glücksfall, ein Buch, das Herz und Kopf mit einem Schlag erobert. Als Journalistin ist die Österreicherin Menasse, Jahrgang 1970, zumindest den Lesern der "Frankfurter Allgemeinen" seit Jahren ein Begriff: als Wiener Kulturkorrespondentin oder als Beobachterin des Londoner Prozesses um den Historiker David Irving.

Für ihren ersten Roman "Vienna" hat sich Eva Menasse aus der Schatztruhe ihrer eigenen Familiengeschichte - Bruder Robert ist seit langem als Romancier und Essayist bekannt; Vater Hans brachte es als Fußballer in den fünfziger Jahren bis in die österreichische Nationalmannschaft - bedient. Unauflösbar hat sie diesen Fundus an unerhörten Geschehnissen mit fiktiven Lebensläufen vermengt und einen Text komponiert, der die Schrecken des 20. Jahrhunderts in einen anekdotenseligen, jedoch nie "harmlos" werdenden Familienroman überführt.

"Vienna" folgt der Perspektive einer bewusst konturenlos bleibenden Ich-Erzählerin, die sich immer danach sehnte, "eine eigene Meinung" zu haben. Schon der Romanauftakt zeigt, mit welchem Tempo hier erzählt wird: "Mein Vater war eine Sturzgeburt." Die Neigung der Großmutter, sich durch nichts und niemanden beim geliebten Bridgespiel stören zu lassen, führt dazu, dass der Vater der Erzählerin auf nicht gerade herkömmliche Weise das Licht der Welt erblickt ... und fortan ein frühreifes Interesse für Spielvergnügen jedweder Art entwickelt. Aus dieser - natürlich - im Kaffeehaus angesiedelten Auftaktszene entwickelt sich ein Roman, der - auf den Spuren Heimito von Doderers - den noch nicht gänzlich historisch gewordenen Charme Wiens zum Leuchten bringt.

Das "manische Mythologisieren", das in der Familienrunde der Erzählerin eifrig gepflegt wird, bringt eine Fülle komischer und aberwitziger Episoden und Gestalten hervor, die mit wenigen Strichen zu eigenständigen und eigenwilligen Charakteren werden: Da ist Bankdirektor Königsberger, der in einer schwer zu deutenden Mischung aus Genialität und Beschränktheit mit allen deutschen Redewendungen auf Kriegsfuß steht und ständig mit der "Kirche ins Dorf" fällt. Da ist die Fußpflegerin aus dem Dianabad, die sich mit Inbrunst um die Füße des Großvaters kümmert und es sich deshalb nicht nehmen lässt, seiner Beerdigung beizuwohnen. Und da sind, zum Beispiel, die Mitglieder des Tennisclubs SC Schneuzl, die mit ihrem Tratsch und Klatsch einen ganz eigenen Kosmos bilden.

Trotz dieses Anekdotenreichtums gelingt es Eva Menasse fast spielerisch, den Einfluss des Nationalsozialismus, der brachial in das Familienleben der Erzählerin eingriff, aufzuzeigen. So mussten Vater und Onkel aufgrund ihrer jüdischen Wurzeln Wien Ende der dreißiger Jahre verlassen und bei Pflegeeltern im englischen Luton unterkommen. Und als sich Österreich nach Kriegsende als erstes Opfer des Naziregimes darzustellen sucht, ist es der Bruder, der in schonungsloser journalistischer Recherche die Verdrängungen und Lügen der Nachkriegsgesellschaft offen legt.

"Vienna" ist ein staunenswerter Roman; nach wenigen Seiten ist vergessen, dass man es mit einem Erstling zu tun hat.

Eva Menasse: Vienna
Kiepenheuer & Witsch
19,90 Euro