"Viel hat der Sport nicht gelernt"

Stefan Osterhaus im Gespräch mit Joachim Scholl · 10.11.2010
Ein Jahr nach dem Freitod Robert Enkes kann Sportjournalist Stefan Osterhaus nicht erkennen, dass die Appelle zu einem menschlicheren Umgang den Profisport verändert haben. Sie seien "eher schon nach wenigen Wochen ein wenig vergessen" gewesen.
Theo Zwanziger: Ich habe Spieler erlebt, die nicht, wie es manchmal beschrieben wird, auch bei schlimmen Ereignissen sofort wieder zur Tagesordnung übergehen, sondern die Trauer zeigen, ehrliche Trauer zeigen, und auch deutlich machen, dass man zum Trauern Zeit braucht. Aber aus diesem Gespräch heute morgen war für uns alle einvernehmlich klar: Wir können das Länderspiel am Samstag gegen Chile in Köln nicht durchführen.

Joachim Scholl: DFB-Chef Theo Zwanziger bei der öffentlichen Trauerfeier für Robert Enke, fünf Tage nach dessen Selbstmord heute vor einem Jahr. Bewegende Worte nach einer kollektiven Erschütterung sondergleichen damals, Absage eines Länderspiels, ja – aber haben die vielen Trauerworte, diese Appelle wirklich etwas bewegt nach Robert Enkes Freitod? Im Studio ist jetzt der Sportjournalist Stefan Osterhaus. Guten Tag!

Stefan Osterhaus: Guten Tag, Herr Scholl!

Scholl: Ja, was hat sich verändert nach dieser Tragödie? Haben der DFB, die Vereine reagiert?

Osterhaus: Sie haben versucht zu reagieren, man kann das so beschreiben. Man hat versucht, Profis zu ermuntern, Schwächen zuzugestehen, man hat versucht, sie dazu, sich öffentlich dazu zu bekennen, aber es ist kein großer Ruck durch den Sport gegangen, das kann man nun wirklich nicht beschreiben. Es war, ganz im Gegenteil, eher schon nach wenigen Wochen ein wenig vergessen.

Da hat es die Entlassung des heutigen Hertha-Trainers Markus Babbel gegeben, damals beim VfB Stuttgart, und Babbel hat unmittelbar nach seiner Entlassung gesagt: All diese Bekenntnisse nach dem Tod Robert Enkes, es müsse menschlicher werden, es muss besser zugehen, davon ist jetzt schon nichts geblieben. Diesen Druck, den ich erfahren habe, bis hin zu Morddrohungen, das war geradezu unmenschlich. Und insofern kann man sagen: Viel hat der Sport nicht gelernt.

Scholl: Psychologen gibt es ja schon länger im professionellen Fußball, diese sogenannten Mentaltrainer sind letzten Endes auch dazu da, die Leistung der Spieler zu verbessern. Plötzlich, nach dem Tod von Robert Enke, ist diese Trainerkaste, wenn man so will, plötzlich in den Blickpunkt gerückt, die Sportpsychologen, die Psychologen in den Vereinen müssen jetzt ganz viel leisten. Sind diese Spezialisten sensibler für solche Erscheinungen wie eine Depression geworden, oder eben auch für Schwächen? Haben Sie da Erkenntnisse?

Osterhaus: Ich glaube nicht. Dass diese Männer Mentaltrainer genannt werden, hat ja einen ganz bestimmten Grund, denn der Psychologe wäre möglicherweise mit dem Stigma behaftet, da stimmt irgendwas nicht. Mentaltrainer – das klingt relativ neutral, damit kann auch ein Profi was anfangen, das Wort "Trainer" ist enthalten.

Und diese Mentaltrainer sind zu anderen Dingen da, es geht darum, Drucksituation beim Spiel zu simulieren. Es gibt auch eine schöne Szene zum Beispiel bei der deutschen Nationalmannschaft, wo mit dem Bogen geschossen wird, wo Elfmeterschießen geübt wird, wo der Torwart ganz nah an der Ecke steht. Das sind Dinge, die sich Mentaltrainer ausdenken. Sie sind nicht geschult, einen Blick auf Depressionen zu haben. Das ist etwas anderes.

Scholl: Ein prominentes Beispiel vor dem Suizid von Robert Enke war der Spieler Sebastian Deisler, ein Spitzenspieler des FC Bayern München, der schließlich aus dem Geschäft ganz ausstieg, und der Verein hatte sich zuvor um ihn, ja, man kann schon fast sagen, rührend gekümmert. Es gibt also viele Aussagen von Uli Hoeneß, man hat Deisler, der damals eben auch depressiv war und richtig verzweifelt, also bis in die Psychiatrie begleitet. Da hat der Verein sich ja doch schon wirklich sehr engagiert.

Osterhaus: Das ist richtig, das hat zum einen auch mit der Fürsorge von Uli Hoeneß zu tun, die geradezu sprichwörtlich ist. Uli Hoeneß gilt als jemand, der für Spieler immer ein offenes Ohr hat, und das ist auch ein ganz wichtiger Faktor. Wenn die Spieler wissen, ich habe jemanden, an den ich mich vertrauensvoll wenden kann – das ist Hoeneß tatsächlich immer gewesen –, dann ist so was vermutlich eher möglich. Deisler hat diesen Schritt getan, und es gipfelte dann darin, dass er mit dem Profifußball aufgehört hat. Das war für ihn die letzte Konsequenz, wieder mit dem Leben klarzukommen. Insofern hat Deisler für sich die richtige Entscheidung getroffen. Die Bayern haben sich etwas anderes erhofft, aber sie haben in diesem Prozess, der hoffentlich zur Gesundung dauerhaft führt, unterstützt.

Scholl: Sie haben vorhin gesagt, Herr Osterhaus, dass man die Spieler ermuntert hätte, auch vonseiten des DFB, der Vereine: Gebt Schwächen zu, sagt, wenn ihr ein Problem habt. Und Sie meinten, es ist eigentlich kein Ruck durch die Vereine gegangen. Es gab ja Beispiele, dass sich Spieler offenbart haben.

Osterhaus: Zum Beispiel den St.-Pauli-Profi Andreas Biermann, der sich zu seinen Depressionen bekannt hat. Am 20. Oktober letzten Jahres, also ein paar Wochen vor Robert Enke wollte er Suizid begehen, das hat er erklärt, und er kriegt seitdem im Profifußball kein Bein mehr an den Boden. Das zeigt also auch: Dieses Bekenntnis zu einer Depression, das muss man sich leisten können.

Sebastian Deisler als größtes Talent des deutschen Fußballs über viele, viele Jahre, der konnte sich das leisten, da war die Hoffnung da, von ihm noch etwas zurückzubekommen. Und das ist ja beim Burnout auch ganz ähnlich, der Burnout ist der Depression ja recht verwandt, aber er ist ja offenbar auch ein Ausweis der Leistungselite, da heißt es Burnout, bei anderen Depressionen.

Scholl: Heißt das denn, also beim Fall des Andreas Biermann, dass er es wirklich gesagt hat – er flog aus dem Verein, also er wurde nicht mehr eingesetzt und wurde auch nicht mehr verpflichtet?

Osterhaus: Er hat keine guten Chancen mehr auf dem Markt. Ein Profi, ein durchschnittlicher Profi, der sich dieses Bekenntnis leistet, muss damit rechnen, dass er im Profifußball nicht mehr zurechtkommen wird. Es ist tatsächlich auch ein Jahr nach Robert Enke immer noch ein Tabu.

Scholl: Gibt es da noch andere warnende Beispiele?

Osterhaus: Keines, das mir spontan einfallen würde, aber das Beispiel Biermann ist schon mahnend genug, finde ich.

Scholl: In England gab es diesen Spieler, der glaube ich an Schizophrenie litt, und das ihm auch nicht gut bekam.

Osterhaus: Eine milde Form, ja. Teils, teils, es ist zwiespältig, das hat auch mit dem Humor der Schotten zu tun. Das war der Fußballtorwart Andy Goram von den Glasgow Rangers, der hat 42 Länderspiele gemacht für die schottische Nationalmannschaft, der gilt als der Rangers-Torwart des Jahrhunderts. Und als dann bekannt wurde, dass er an dieser milden Form der Schizophrenie leidet, da haben die Fans gesungen: "Es gibt nur zwei Andy Gorams", und damit ist Goram eigentlich noch ganz gut klargekommen.

Scholl: Schottischer Humor. Ein Jahr nach Robert Enkes Tod – was hat sich verändert im Profifußball? Darüber sind wir im Gespräch hier im Deutschlandradio Kultur mit dem Sportjournalisten Stefan Osterhaus. Fußball ist nicht alles, das war der zentrale Satz Theo Zwanzigers in der Trauerrede damals, fünf Tage nach dem Tod von Robert Enke. Aber steht dieser Satz nicht auch doch in einem etwas heuchlerischen Widerspruch zur offiziellen Doktrin des Leistungssports? Denn für einen hoch bezahlten Fußballprofi muss Fußball doch schließlich alles sein, er muss, wie die beliebte Floskel heißt, ja auch immer alles geben.

Osterhaus: Das ist so. Es gibt Charaktere, die das besser separieren können, Stefan Effenberg beispielsweise war so jemand, der sagte, ich kümmere mich erst am Freitag um das Spiel vom Samstag. Aber das ist eine ganz, ganz geringe Minderheit, die das können, und die dieses Leistungsvermögen haben. Für alle anderen gilt wirklich volle Konzentration, und der Profisport ist dem Leistungsgedanken per se verpflichtet, das auch nicht erst seit gestern. Und da also ein Reservoir der Menschlichkeit zu erwarten, das wäre auch ein bisschen viel verlangt, also es widerstrebt eigentlich dem Gedanken des Sports, des Leistungssports.

Scholl: Wie weit haben eigentlich die Fans hier Mitschuld? Sie haben vorhin das Beispiel von Markus Babbel erzählt, der ja auch bis zu Morddrohungen bekam, die Fans, die da wahrscheinlich auch unversöhnlich sind, oder?

Osterhaus: Wenn die Leistung nicht stimmt, sind die Fans unversöhnlich, dieser Begriff Leistungsträger, der steht da nach wie vor. Und wenn die Leistung nicht erbracht wird, reagieren Fans extrem emotional, das zeichnet ja den Sport auch aus, dass eben eine emotionale Teilhabe sehr, sehr stark ist, und die nicht unbedingt rational ist.

Scholl: Kommen wir noch mal zurück auf das Schicksal Robert Enkes, Herr Osterhaus. Über das Warum seines Todes gibt es nun verschiedene Deutungsmuster. Zwei Biografien sind inzwischen erschienen, die eine von Ines Geipel, die Enkes DDR-Sozialisation auch mit verantwortlich macht für diesen letzten Schritt, für die Krankheit, auch für die Verzweiflung. Das zweite Buch stammt von Robert Enkes Freund Roland Reng. Er nun sagt, die Strukturen des Profifußballs, das sind die entscheidenden Faktoren gewesen, die zu dieser Tragödie geführt haben. Welche Sicht ist für Sie überzeugender?

Osterhaus: Beide sind auf ihre Art und Weise plausibel. Die Sicht von Ines Geipel ist eine absolut neue, also sie war mir vorher auch nicht geläufig gewesen, Enke aus dem Blickpunkt der DDR-Vergangenheit zu betrachten. Er hat ja immerhin 12, 13 Jahre lang im Jugendsport der DDR verbracht, und Ines Geipel argumentiert so, sie sagt, da ist diesen Spielern eine Menge abgenommen worden, sie sind extrem behütet aufgewachsen. Sie hatten, sie mussten sich um wenig kümmern und hatten demzufolge keine Strategien entwickeln können, um sich dann halt später, eben nach einem Systemwechsel zudem, zurechtfinden zu können. Das hat etwas sehr Plausibles, was sie macht.

Ronald Reng hat einen ganz anderen Ansatz. Er sagt einfach, diese Unmenschlichkeit, die dem Profisport zugrunde liegt, die hat einen sensiblen Charakter wie Robert Enke dann am Ende zugrunde gerichtet. Und es gibt diese Episode aus Barcelona, wo er von Trainer Louis van Gaal, der ihn nicht haben wollte, der ihn auf die Bank gesetzt hat und aus dem Kader geworfen hat, diese Episode macht Reng vor allem dafür verantwortlich, dass Enke allmählich in die Depression abgeglitten ist.

Scholl: In Hannover konnte man den Schock nach Enkes Tod rein physisch, sportlich sehen. Die Mannschaft hat danach nur noch verloren. In dieser Saison gewinnen sie am laufenden Band, weil man im Verein auch so einen radikalen Verdrängungskurs fährt, also kein Gedenken an Robert Enke in diesem öffentlichen Sinn, konzentriert euch auf euer Spiel. Da könnte man auch zynisch sagen, ja, im Vergessen liegt die Kraft.

Osterhaus: Bei Hannover 96 spricht einiges dafür, beispielsweise hatte man in Hannover gelobt, die Nummer Eins, die Enke auf dem Rücken trug, nie wieder an einen anderen Torhüter zu geben, und es ist nicht mal dieses berühmte Trauerjahr eingehalten worden, und Fromlowitz, der heutige Torhüter von Hannover 96, lief mit der Nummer Eins auf. Das hat für Hannover 96 sicherlich was Gutes gehabt, dass der Trainer Mirko Slomka engagiert wurde, im letzten Jahr im Abstiegskampf hat er gesagt: Jetzt wird nicht mehr über Robert Enke geredet, wir müssen hier einen Schnitt machen. Und das hat Hannover offenbar geholfen.

Scholl: Ein Jahr nach Robert Enkes Tod, das Spiel geht weiter, business as usual. Das war der Journalist Stefan Osterhaus. Ich danke Ihnen für Ihren Besuch!

Osterhaus: Danke auch!
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