Verwirrende jüdische Wirklichkeit der Nachholocaust-Zeit

12.11.2012
Mit schwarzem Humor über die Schoa schreiben: Eine Spezialität des amerikanischen Schriftsellers Nathan Englander. Doch in seinen neuen Kurzgeschichten geht es auch darum, wie alte Erklärungsmuster im heutigen jüdischen Alltag versagen.
Ein Fitness-Club in Florida. Zwei alte Männer ziehen sich um. Beide haben Nummern auf dem Unterarm eintätowiert. Wie der Sohn des einen bemerkt, unterscheiden sie sich nur um eine Ziffer. Die beiden Juden, die das Vernichtungslager überlebt haben, müssen unmittelbar nacheinander im KZ eingetroffen sein. Als der Sohn seinen Vater darauf anspricht, erwidert der nur: "Das bedeutet nur, dass er sich vorgedrängelt hat."

Solche Geschichten zu erzählen würde wohl einem deutschen Schriftsteller schwer fallen. Dazu ist die Scheu vor dem Thema Holocaust viel zu groß. Doch Nathan Englander, jüdischer US-Bürger, hat schon immer diese Art von schwarzem Humor gepflegt, die einem kurz den Atem stocken lässt, bevor man lacht.

Er mokiert sich zum Beispiel auch über jüdische Verfolgungsparanoia. So lässt er eine junge Familie in ihrem Haus eine Speisekammer so anlegen und mit Lebensmittel vollstopfen, dass sie sich dort ein Jahr lang verstecken könnten, käme es zu einer Situation, wie sie Anne Frank erlebt hat. Gleichzeitig überlegt das Paar zusammen mit Freunden, wem sie in solch einem Fall trauen könnten, sie nicht zu verraten. Das Resultat ist erschreckend, aber ganz anders als man als Leser vermutet.

Das ist typisch für alle acht Kurzgeschichten. Nathan Englander überrascht ständig mit Auflösungen, die den Lesers überraschen, sogar schockieren. Sein Stil ist lakonisch, sein Humor trocken. Er schildert die absurdesten Situationen nüchtern und sozusagen unbewegt. Er urteilt nicht, lässt seine Geschichten für sich selbst sprechen.

Dabei geht bis auf eine Geschichte, die das Verhältnis von Autor und Leser zum Thema hat, stets um das Jüdisch-Sein, um unterschwelligen oder offenen Antisemitismus, um das Leben in Israel. Englander spielt mit den gängigen Vorurteilen gegenüber Juden auf eine Art und Weise, die gleichermaßen makaber wie komisch ist.

In einer Geschichte will sich eine Gruppe jüdischer Jungs in Long Island gegen einen älteren Jugendlichen zur Wehr zu setzen, der ein ausgewiesener Antisemit ist und sie mit sarkastischen Bemerkungen schmäht oder sogar körperlich attackiert. Die Jungs nehmen daraufhin Unterricht in Kampfsportarten. Doch als es drauf ankommt, wirklich zu kämpfen, fliehen sie. Sie müssen einen Älteren davon überzeugen, den Fiesling zu verprügeln. Als der dann am Boden liegt, haben sie plötzlich ein schlechtes Gewissen. Die Ambivalenz ist überdeutlich: Sie würden sich gerne wehren, haben aber ein schlechtes Gewissen, wenn sie es wirklich tun. Jüdische Schizophrenie.

Der Kommentar dazu findet sich in einer anderen Geschichte, in der ein israelischer Soldat im Sinai-Feldzug 1956 vier wehrlose ägyptische Soldaten durch Kopfschuss tötet. Die Tat findet ihre Erklärung im Holocaust. Ob das als Rechtfertigung reicht, lässt Englander offen. Seiner Geschichten verweigern sich einer oberflächlichen Moral. Was er zu sagen scheint: Die alten reflexartigen Muster der Schuldzuweisung taugen nicht für die verwirrende jüdische Wirklichkeit der Nachholocaust-Zeit.

Besprochen von Johannes Kaiser

Nathan Englander: Worüber wir reden, wenn wir über Anne Frank reden. Stories
Aus dem Englischen von Werner Löcher-Lawrence
Luchterhand, München 2012
234 Seiten, 18,99 Euro