Verwandte Stimmen

Von Burkhard Laugwitz · 30.06.2012
Die Gattung des Streichquartetts gilt als die anspruchsvollste Gattung der Instrumentalmusik, als Königsklasse der Musik schlechthin, als besondere Herausforderung für Komponisten und für Interpreten. Für die Musiker eines Quartetts ist es nicht einfach, die Balance zu finden zwischen Individualismus und Gesamtklang. Während der Proben wird bei den Ensembles beinahe um jede Note und um jede musikalische Nuance gestritten.
Vehement wird um die richtige, die vermeintlich einzige, die authentische Interpretation gerungen. Doch soll von diesen Auseinandersetzungen das Publikum möglichst nichts spüren. Auf der Bühne müssen sich die Musiker aufeinander verlassen können. Flexibel und anpassungsfähig im Spiel muss jeder auch spontan auf die Mitspieler reagieren können. Der indische Schriftsteller Vikram Seth hat in seinem Buch "Verwandte Stimmen" den Alltag, die Probleme und die Hoffnungen praktizierender Musiker eindrucksvoll literarisch verarbeitet. Joseph Haydn, der heute als Vater des Streichquartetts gilt, hat 1755 seine ersten Streichquartette geschrieben. Seither haben sich zahlreiche berühmte Komponisten mit dieser besonderen Form auseinandergesetzt.

Über die Schwierigkeiten im Miteinander, aber auch über das Gelingen jener unausweichlichen Viersamkeit, zum Teil über Jahrzehnte hinweg, erzählen Musiker des Amadeus-, des Kolisch-, des Guaneri- und des Auryn-Quartetts anhand vieler Musikbeispiele in dieser Langen Nacht.


Auszug aus dem Manuskript:

Die Funktion der einzelnen Spieler im Allgemeinen und deren Charakter im Besonderen, das scheint ein Kapitel für sich zu sein.

Lassen wir es ruhig von einem Profi erklären, von Norbert Brainin dem einstigen Primarius des Amadeus-Quartett.

Ein wirkliches Quartett muß geboren werden. Der erste Geiger in einem Quartett muß führen und zwar ist das kein Privileg, sondern das ist ein Service, das den anderen zugute kommt. Denn ohne dem können sie den Job gar nicht tun, den sie tun sollen. Also es ist mein Job dies zu tun. Aber zur selben Zeit jeder von den Quartettmitgliedern, da muß ab und zu mal der eine oder andere muß führen, muß zeigen. Der wirkliche Grund ist, in einem Quartett gibt es ja keinen Dirigenten. Jemand muß das tun! Ich sag immer, dass 2. Geige in einem Quartett zu spielen ist eine große Kunst, die muß gelernt werden. Man muß den Sinn für Balance haben, für Tonfarbe, das muß man lernen. Man kann nicht einfach, man hat natürlich Talent dafür, aber lernen. Ich seh manchmal, da gibt’s junge Quartette vor allem die wechseln immer zwischen erster und zweiter Geige, das ist eine Kinderei. --- Das Quartettspiel ist doch nicht paar hübsche Melodien in höchsten Lagen zu spielen. Das geht so nicht, das ist nicht professionell. Man muß sich in eine gewisse Rolle die man zu spielen hat in einem Quartett das muß gelernt sein. Und Bratsche ist auch ein ähnlicher Fall in einem Quartett.

Man hört es, das Amadeus-Quartett kam aus einer Tradition, in welcher der Primarius noch weitgehend "tonangebend" war, was auch im Quartettklang hörbar wird; ein zwar durchaus homogener Ensembleklang, der gleichwohl vom Glanz der ersten Geige leicht dominiert wird.


Das Amadeus-Quartettwar ein bekanntes Streichquartett des 20. Jahrhunderts. Es wurde 1947 in London gegründet und hatte folgende Besetzung: Norbert Brainin ( 1.Violine), Siegmund Nissel (2.Violine), Peter Schidlof (Viola) und Martin Lovett (Violoncello).

Auszug aus dem Manuskript:

Der einzelne Spieler muß so flexibel und anpassungsfähig sein, dass er, während eines der Mitglieder eine großartige Kantilene spielt, er mit seinem Geflecht von Begleitungsstimme - bei aller Freiheit – auf den Gang der anderen Stimmen Rücksicht nehmen kann. Da verständigt man sich schon einmal durch Blickkontakt, gleichwohl muß man durchaus auch traumwandlerisch auf den, der das Hauptthema gerade spielt, reagieren, wenn dieser etwa in Agogik, Tempo oder Dynamik einmal von dem abweicht, was vorher probiert worden war. Über ein solches traumwandlerisches Spiel berichtet der Bratschist des legendären Kolisch-Quartetts, Eugen Lehner.


Dadurch, dass Kolisch mit der linken Hand gespielt hat, sind wir so gesessen, daß an der Stelle, wo heute der 1. Geiger sitzt. der 2. Geiger saß und ihm gegenüber der 1. Geiger. So saß ich neben dem 2. Geiger etwas versetzt hinter ihm. Nun, es war in Paris. Wir hatten eine anstrengende Nachtreise gehabt und ich war recht schläfrig. Wir hatten im Konzert das Beethoven f-moll-Quartett op. 95 zu spielen. In dem 2. Satz nach dem Hauptthema, kommt doch ein fugatenhaftes Seitenthema. Und dem gehen 2 Akkorde voraus — E und B hat die Bratsche zu spielen — und dann beginnt die Bratsche mit der Melodie. Kurz und gut, während ich dieses E u. B spiele, wusste ich nicht mehr, wie es weiterging. Das ganze dauerte eineinhalb Sekunden. Ich dachte: Um Gottes willen, was wird jetzt geschehen? Das ist doch ein Fugato. Wenn ich jetzt nicht mit dem Thema anfange, werden wir dann bis morgen sitzen und uns anstarren? Und der Kuhner dreht sich zu mir um und beginnt mein Thema zu spielen und als ich weiterspiele dreht er sich wieder zurück. Der Kolisch und Heifetz, die haben nicht aufgeschaut. Die haben nicht mal gewusst, dass der 2. Geiger den Anfang gespielt hat und ich es übernommen habe. Innerhalb einer Sekunde ist das passiert. Nachher, wo wir rausgegangen sind, habe ich den Kuhner gefragt: "Woher wussten sie, daß ich nicht spielen werde?" "Sie Idiot ! Sie waren auf der falschen Saite!" Ich pflegte nämlich auf der D-Saite in der 4. Lage zu beginnen und ich hatte meine Finger irgendwo auf der A-Saite gehabt. Und in dieser Sekunde hat er gesehen. der wird nicht spielen. So war Kuhner.

Das Kolisch-Quartettwar ein von Rudolf Kolisch 1921 in Wien gegründetes Streichquartett, das durch seine besonderen Verdienste um die Aufführung und Propagierung Neuer Musik zu den zentralen Ensembles des 20. Jahrhunderts gehört. Es zerfiel nach der Emigration in den USA 1944.

Auszug aus dem Manuskript:

"Vier vernünftige Leute" – wie Johann Wolfgang von Goethe es formulierte; sind sie das wirklich, die Damen und Herren, die sich zu einem Streichquartett formiert haben, die da abends aufs Konzertpodium steigen, um ihrem zumeist älteren aus dem Bildungsbürgertum stammenden Publikum, eine Musikgattung anzubieten, die immer auch ein Hauch von Exklusivität umweht. "Sehen und gesehen werden", das ist beim Publikum von Quartettabenden nie angezeigt. Es ist nicht der Platz, um die große Abendrobe vorzuführen, dezenter Schick ist hier angesagt, ist selbst bei Konzerten mit renommierten Quartetten das Maß aller Dinge. Quartettabende selbst mit den großen Namen der Szene haben nie auch nur den Hauch eines "Events", sie sind stets eher eine "ruhige Veranstaltung" bei der man sich auf das wesentliche, will sagen auf die Musik konzentriert. Es ist zumeist ein kenntnisreiches Publikum, gehören ihm doch häufig genug Amateurmusiker an, die selbst dem Quartettspiel frönen und damit natürlich auch einen viel engeren Bezug zur Musik haben, als es je ein anderes Publikum haben kann.

Sind das wirklich "vier vernünftige Leute", die eine Musik vortragen, die manch ein Quartettspieler selbst auch schon mal als "affektiert-elitäre Kunst" (Tree) bezeichnet hat. Oder sind es doch eher "siamesische Vierlinge", wie der einstige Primarius des Guarneri String Quartet Arnold Steinhardt diese Viererformation bezeichnete, "siamesische Vierlinge" die sich zuweilen durch den jeweils anderen in ihrem künstlerischen Spielraum eingeengt fühlen?

"Wir führen eine eigenartige Ehe zu viert mit sechs Beziehungen, von denen jede jederzeit herzlich oder neutral oder angespannt sein kann. Das Publikum, das uns zuhört, hat keine Vorstellung davon, wie ernsthaft, wie gereizt, wie anpassungsfähig unsere Suche nach etwas außerhalb von uns selbst ist, das sich jeder von uns im Kopf ausmalt, das wir aber gemeinsam zu verkörpern gezwungen sind. Wo in all dem ist die geistige Harmonie, ganz zu schweigen von Erhabenheit? Wie verwandeln sich trotz unserer zänkischen Persönlichkeiten diese Mechanismen, diese Abbrüche und Einsätze, diese nachlässige Respektlosigkeit in musikalisches Gold? Doch oft genug gelangen wir von so trivialen Anfängen zu einem Verständnis eines Werks, das uns sowohl wahr als auch originell erscheint, und zu einem Ausdruck desselben , der uns – und vielleicht auch diejenigen, die uns hören, zumindest für eine Weile – andere, noch so wahre und originelle Versionen, von anderen Händen gespielt, vergessen lässt."

So beschreibt der Ich-Erzähler Michael Holme, Geiger des fiktiven Maggiore Quartetts in Vikram Seth´s Musikroman mit dem Titel "Verwandte Stimmen" das Beziehungsgeflecht dieser Viererformation. Matthias Lingenfelder, der Primarius des Auryn-Quartett drückt es weniger prosaisch aus.

"Wenn wir oft mit anderen im Quintett zusammenarbeiten, dann sind die manchmal sehr überrascht über die Art der Kommunikation die wir zu viert führen. Wir reden ganz wenig, manchmal gibt es keine Antwort auf die Frage. Für Außenstehende ist das gewöhnungsbedürftig. Einmal hatten wir einen Freund, mit dem wir zusammengespielt haben und dann hinterher: Sag mal, versteht ihr euch nicht mehr oder habt ihr Streit? Dann sagten wir: Nein, wieso? Ist doch alles wunderbar. Ich glaube doch dass man zu viert ein ganz besonderes Verhältnis entwickelt, ähnlich wie es bei einem Ehepaar ist, was lange zusammenlebt, eine eigene Sprache, es gibt dann immer wieder Zitate, die man dann nur aus der gemeinsamen Geschichte versteht und solche Dinge."

Das 1964 gegründete Guarneri String Quartet (auch Guarneri Quartet) ist eines der weltweit bedeutendsten Streichquartett-Ensembles. Es ist in New York beheimatet. Neben dem klassischen Konzertrepertoire bringt es die Werke führender Komponisten der Gegenwart zur Aufführung, so zum Beispiel das eigens für das Guarneri Quartet geschriebene 5. Streichquartett von Lukas Foss oder Werke von Richard Danielpour.

Auszug aus dem Manuskript:

Das in Nordrhein-Westfalen beheimatete Auryn-Quartett, dass sich auch beim Guarneri-Quartett wichtige Anregungen geholt hatte und nicht nur alle Streichquartette Haydns zyklisch aufgeführt, sondern auch für die Gesamteinspielung der Haydn-Quartette den "Jahrespreis der Deutschen Schallplattenkritik" 2011 errungen hat, hat sich beim letzten Akkord im Streichquartett op. 76 Nr.1 anders entschieden.

Also Schlussakkorde op. 74 Nr. 1, wir haben uns entschlossen kein großes Ritardando zu machen, und zwar aus dem Grund: In der Coda von dem Schlusssatz bringt Haydn noch mal einen neuen Einfall und der ist wunderbar. Ein grandioser Einfall der sehr schlicht ist und so ein bisschen an die Zauberflöte von Mozart erinnert und dann wäre das für mein Gefühl, der theatralisch ist nicht angebracht. --- Wir nehmen von den beiden letzten Akkorden noch einmal einen ganz kleinen also Luftholen, also minimal Zeit um die beiden Akkorde hinzusetzen, damit der Hörer auch weiß: Jetzt ist Schluß.

… Also vielleicht kann ich noch ergänzen, das macht die Interpretation nicht richtig oder falsch oder besser. Also richtig oder falsch gibt es eigentlich nicht für eine Interpretation. Was es geben kann, dass es stimmig ist oder nicht.

Das Auryn Quartett, gegründet 1981, ist ein international renommiertes Streichquartett. Die vier Gründungsmitglieder Andreas Arndt (Cello), Stewart Eaton (Bratsche) und die beiden Violinisten Matthias Lingenfelder (* 1959) und Jens Oppermann (* 1960) bilden bis heute das Ensemble.