Vertrauenskrise der Politik

29.12.2011
Die Politikwissenschaftlerin Patrizia Nanz glaubt, dass "die Bürger nicht mehr davon überzeugt sind, dass die politische Klasse ihre Interessen vertritt". Man müsse die repräsentative Demokratie nun durch verschiedene Formen der Bürgerbeteiligung ergänzen.
Christopher Ricke: "Frischzellenkur für die Demokratie", so heißt unsere Reihe in der "Ortszeit" zurzeit, die sich mit dem Aufbruch beschäftigt. Und Aufbruch kann arabischer Frühling sein, aber auch Stuttgart 21. In allen Fällen geht es um den Unmut mit dem politischen Betrieb, wie wir ihn haben, es gibt viele Menschen, die sich mehr Bürgerbeteiligung wünschen, leichtere Volksentscheide.

Ich habe mit Patrizia Nanz gesprochen, sie ist Professorin an der Uni Bremen. Frau Nanz, wir haben ja eine parlamentarische Demokratie, mit gutem Grund, hier werden die Entscheidungen von Abgeordneten getroffen, es ist also keine direkte Demokratie. Muss dieses System jetzt ersetzt werden oder vielleicht doch nur ergänzt?

Patrizia Nanz: Also ich würde sagen, dass Demokratie immer Umwälzungen durchlaufen hat. Es gibt verschiedene Transformationen, die große sozusagen bei den Griechen, dann während der amerikanischen Revolution. Ich denke, wir stehen vor einer ähnlich großen Transformation in den nächsten 20 bis 30 Jahren. Und es gilt natürlich nicht, jetzt dieses repräsentative System zu ersetzen, sondern zu ergänzen beziehungsweise zu erweitern.

Ricke: Es gibt aber sehr gute Argumente gegen allzu viel direkte Demokratie. Hätten wir den direkten Volkswillen im Gesetzblatt, dann hätten wir wahrscheinlich sehr schnell die Todesstrafe in Deutschland, dann würden kriminelle Ausländer sofort abgeschoben. Es muss doch eine Grenze geben.

Nanz: Ja, die Grenze ist in Deutschland schon durch das Grundgesetz gegeben, das heißt, viele Dinge können gar nicht zur Abstimmung gelangen. Das heißt, viele Entscheide, die auch in der Schweiz erst kürzlich zur Debatte standen, würden gar nicht in Deutschland zur Debatte gestellt werden können. Das ist die eine Sache.

Die andere Sache ist: Ich weiß nicht genau, wenn wir sozusagen über Bürgerbeteiligung sprechen, dann weiß ich nicht genau, worauf Sie sich beziehen. Es gibt zwei grundsätzlich unterschiedliche Formen von Bürgerbeteiligung. Die eine ist, wie Sie bereits sagten, die direktdemokratische, und die andere ist eher dialogorientiert. Das sind grundsätzlich ganz unterschiedliche Tendenzen.

Ricke: Die direktdemokratische wäre die Verkürzung einer politischen Frage auf die Entscheidung Ja oder Nein, wie ist es bei dieser dialogorientierten?

Nanz: Da geht es eher um die Argumente, die ausgetauscht werden zwischen Bürgern und die sozusagen das Gemeinwohl im Zentrum haben sollten, es geht eigentlich eher um so einen Lernprozess und Diskussionskultur oder Streitkultur, die dadurch ins Zentrum gerät. Das heißt aber auch, dass natürlich weniger Bürger beteiligt werden können. Also in Deutschland sind zuletzt, ich glaube in der höchsten Form ungefähr 10.000 beteiligt worden bei dem Bürgerforum, aber im Grunde genommen sind das natürlich im Verhältnis zum Wahlvolk nicht sehr viele Bürger, und das ist auch die Grenze von Beteiligungsformen.

Ricke: Aber dann befrage ich ja wieder die, die engagiert sind, die sich einbringen wollen, mit diskutieren wollen, die haben doch jetzt schon ihre Heimat in den politischen Parteien.

Nanz: Nein, so ist es nicht, so ist es eigentlich eher bei den direktdemokratischen Abstimmungen, weil da ja jeder hingehen kann oder nicht, um Ja oder Nein zu stimmen. Übrigens ist da auch die große Frage, wer die Fragen formuliert, die können ja auch sozusagen recht irreführend beziehungsweise vereinfacht gestellt werden. Dadurch kommt es auch zu einer Verfälschung von Entscheidungen.

Bei den dialogorientierten Verfahren gibt es ganz unterschiedliche, also wirklich sehr, sehr viele Verfahren weltweit, aber es gibt sehr viele, die durch Losverfahren die Bürger auswählen. Das ist recht aufwendig, weil man sozusagen die Bürger erst mal rekrutieren muss. Das kann man auch machen, indem man versucht, die Bevölkerung abzubilden nach sozialen Kategorien, also Alter, Bildung, Geschlecht und so weiter. Dadurch würde man auch versuchen, eben die Bürger einzufangen, die per se jetzt nicht unbedingt sich von selber beteiligen würden.

Ricke: Wenn man so etwas in Deutschland prüfen und einführen würde, müsste man sich möglicherweise auch den Artikel 21 des Grundgesetzes noch einmal ansehen, der sich mit den Parteien eben als Ort der Willensbildung beschäftigt. Müssen wir diesen Artikel 21 dann nur anders interpretieren oder müssen wir ihn ändern?

Nanz: Wir müssen ihn nicht unbedingt ändern, weil ich glaube, es wäre schon viel gewonnen, wenn die Parteien diese Aufgabe auch wirklich erfüllen würden. Denn im Augenblick ist es so, dass ich denke, dass die Vertrauenskrise der Politik vor allem eine Krise ist, weil die Bürger nicht mehr davon überzeugt sind, dass die politische Klasse ihre Interessen vertritt. Das heißt sozusagen, die Parteien, das Monopol der Parteien in der parlamentarischen Demokratie ist im Augenblick das Grundübel. Und wenn die Parteien sich wieder darauf besinnen würden, die Willensbildung des Volkes eben sozusagen zu institutionalisieren, dann wäre schon viel gewonnen.

Ricke: Müssten dann die Parteien nicht erst einmal bei sich selbst anfangen, Stichwort Mitgliederentscheid?

Nanz: Genau. Da gibt es ja auch schon Vorstöße, zum Beispiel von der SPD, dass eben innerparteiliche Entscheidungen auch für die interessierte Öffentlichkeit offengehalten werden, das heißt, dass es eben unter Umständen zu Dialogen mit Nicht-Parteimitgliedern kommen kann.

Ricke: Ist die Grundsorge bei der Diskussion über die direkte Demokratie aus Ihrer Sicht schon entkräftet, die Grundsorge Populismus, wenn man doch durchaus sorgenvoll auf die Schweizerische Volkspartei schauen kann, die im Parlament inzwischen die größte Fraktion stellt?

Nanz: Der Populismus ist in der Tat eine große Gefahr eben, wie gesagt besonders bei den direktdemokratischen Instrumenten, wobei in Deutschland eben durch das Grundgesetz vieles nicht möglich wäre, wie zum Beispiel der Minarettbeschluss in der Schweiz.

Es gibt aber auch Beispiele, wo beispielsweise direktdemokratische Verfahren gekoppelt wurden an dialogorientierte Verfahren. Also in 2004 zum Beispiel in der kanadischen Westprovinz British Columbia ging es um eine Wahlreform, und die Abstimmungsvorlage hat eine Bürgerversammlung mit 160 nach Losverfahren ausgewählten Bürgern erstellt. Also sozusagen die Abstimmungsgrundlage wurde aus den eigenen Reihen der Bürger verfasst und ist dann eben zur Abstimmung gekommen.

Also man kann auch durchaus sich vorstellen, dass verschiedene Formen entweder direktdemokratischer Verfahren oder auch parlamentarischer Entscheidungen sich koppeln lassen an dialogorientierte Verfahren.

Ricke: Die Zukunft der Demokratie. Vielen Dank, Frau Professor Nanz!

Nanz: Danke Ihnen, Herr Ricke!

Ricke: Patrizia Nanz von der Uni Bremen. Dort arbeitet sie am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien.

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