Verräter eines "ganzen Israel"

Von Elisabeth Nehring · 08.11.2010
Ariel, eine große jüdische Siedlung mitten im Westjordanland, hat ein neues Kulturzentrum. Doch einige israelische Schauspieler und Regisseure weigern sich, dort aufzutreten. Für viele Israelis sind sie deswegen Verräter der Idee eines "ganzen Israel".
Wer dieser Tage die Theater Tel Avivs betritt, erlebt business as usual. Tagsüber laufen die Proben, abends die Aufführungen – ungestört. Der Vorwurf, jene Schauspieler, die sich weigern, in dem neuen Theater in Ariel zu spielen, seien allesamt Vaterlandsverräter, ist oft genug – ob in den Medien oder auf der Straße – wiederholt worden. Doch Ruhe herrscht nur an der Oberfläche, knapp darunter brodelt es noch immer, weiß Noam Semel, Direktor des Cameri Theaters:

"Der Geist ist der Flasche entwichen, würden wir in Israel sagen. Ariel wurde zum Symbol des grundsätzlichen Konflikts, der in der israelischen Gesellschaft existiert. Deswegen hat der Fall auch so viel Interesse und Medienaufmerksamkeit auf sich gezogen. Vor 20, 30 Jahren hat das israelische Theater viele sensible Themen behandelt. Aber in den letzten zwei Jahren gab es auf politischer Ebene wenig Reaktionen. Die Politiker haben das Theater weitgehend ignoriert. Das Theater hatte politisch überhaupt keinen Einfluss mehr, obwohl wir stets kontroverse Themen auf die Bühne gebracht haben. Und plötzlich wird mit dem Fall Ariel das Theater wieder zu einer bedeutenden politischen Kraft."

Das bringt die Direktionen der Theater in eine schwierige Lage. So hat Cameri-Direktor Noam Semel nach der Boykott-Petition der Künstler seinerseits eine schriftliche Erklärung abgegeben, in der er die Teilnahme am Programm im Kulturzentrum in Ariel bestätigt und gleichzeitig auf die Meinungs- und Entscheidungsfreiheit seiner Mitarbeiter hinweist. Schauspieler, die nicht wollen, müssen nicht in Ariel auftreten, sondern werden von Kollegen ersetzt. Das ist vertraglich festgelegt und diplomatisch gedacht – sowohl in Richtung der Regierung, von der die großen Theater des Landes finanziell anhängig sind als auch hinsichtlich der demokratischen Selbstwahrnehmung des Landes, die allen Bürgern Meinungsfreiheit garantiert.

Für den Schauspieler Ishai Golan, der die Petition mit unterzeichnet hat, ist der Kompromiss dennoch eine Niederlage:

"Seit dem Beginn der Besatzung im Jahr 67 haben die israelischen Theater niemals in den besetzten Gebieten gespielt, das war eine Art Konsens. Es ist ein Land im Konflikt und bis heute gibt es keine Einigung darüber. In den besetzten Gebieten gibt es ein Siedlerkomitee, dessen Ideolgie extrem rechtslastig ist, ihre Agenda ist gegen den Frieden. Israel soll nur den Juden gehören, alle Araber sollen rausgeschmissen werden - das ist ihr Programm. Und nun sagt mir dieses Siedlerkomitee, ich, der Schauspieler Ishai Golan, soll kommen, und ihre illegitimen Aktionen beglaubigen! Da ist es für mich als Schauspieler eine Pflicht, zu sagen, nein, ich gehe nicht. Ich werde auf keine Fall Teil einer illegalen, amoralischen Aktion sein!"

In Ariel dagegen sieht man die Dinge vollkommen anders und sich selbst nicht als Siedler, sondern als legitime Bürger des Israelischen Staates. Und tatsächlich landet man in Ariel nicht bei fanatischen Siedlern in staubigen Zelten, sondern in einem dieser gesichtlosen Orte, die es überall auf der Welt gibt. Ariel hat 18.000 Einwohnern, darunter die Hälfte russischer Herkunft, Universität, Einkaufs- und Sportzentrum. Das Kulturzentrum ist für die Stadtverwaltung nur ein weiterer Schritt hin zum Status eines ernst zu nehmenden urbanen Zentrums. Als offizielles Statement zum Boykott der Schauspieler wiederholt Reuven Franks, Koordinator der Aliyah, der Immigration nach Ariel, ein in Israel gern genanntes Argument:

"Es handelt es sich hier um Kultur und nicht um Politik; so etwas wird normalerweise nicht miteinander vermischt. Und außerdem ist es vollkommen irrelevant, ausgerechnet aus der Eröffnung eines Kulturzentrums eine politische Grundsatzdebatte über die israelische Siedlungspolitik im Ganzen zu machen, denn dieses Kulturzentrum ist für diejenigen gedacht, die sowieso schon da sind. Wenn diese Schauspieler gegen den Bau von Häusern protestiert hätten, wäre das vielleicht noch verständlich gewesen, aber dagegen zu protestieren, dass es Menschen ermöglicht werden soll, ins Theater zu gehen, war ein großer Fehler."

Seit der Gründung im Jahr 1978, war Ariel als Stadt geplant. Tatsachen schaffen auf dem Boden der Realität - jenseits politischer Grenzverläufe – das war und ist die Devise der Siedler. Dazu gehört auch, möglichst viele Menschen an einem Ort anzusiedeln, die – im Falle einer Zwei-Staaten-Lösung – nur schwer umzusiedeln sein werden. Das ist in Ariel erfolgreich geschehen, oft ohne die zumeist russischen, säkularen Immigranten darüber zu informieren, wo sich die neue Heimat genau befinden wird. Deswegen trifft der Boykott der Künstler auch nicht grundsätzlich die Bevölkerung in Ariel, wohl aber die Siedlungspolitik des Staates. Ishai Golan:

"Ich habe nichts gegen die Leute in Ariel als Publikum. Auch in Tel Aviv spielt man vor Leuten, deren politische Meinung man nicht teilt, wie Rechten oder Siedlern. Aber ich möchte noch einmal betonen: In diesem Fall werden wir Schauspieler für eine politische Strategie missbraucht und wir sind nicht dazu da, die politische Strategie der Rechten zu erfüllen. Natürlich ist das eine clevere Strategie, dort Theater hinzubringen, damit zeigt man, alles ist in Ordnung, aber sorry, es ist überhaupt nichts in Ordnung."
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