Verneigung vor den Katzen der Welt

22.08.2008
Der Anfang Juni verstorbene Peter Rühmkorf war nicht nur ein genialer Schreiber, sondern auch ein beeindruckender Sprecher. Das jetzt als Hörbuch erschienene Märchen "Auf Wiedersehen in Kenilworth" hat Rühmkorf zwar nicht selbst gesprochen, doch mit dem erfahrenen Vorleser Dietmar Mues nimmt das der Geschichte über verhexte Katzen und Menschen nichts von ihrem Zauber.
"Vor vielen vielen Jahren - und wenn ich sage viel, dann meine ich auch viel, ein gutes Vierteljahrhundert ist es jetzt her-, da lebte auf dem Schloss Kenilworth in England ein Kastellan mit Namen Jam McDamn nebst seiner Katze Minnie, auch Ginger genannt, denn sie hatte ein ingwerrotes Fell."

Ein friedliches Leben. Jam McDamn führt jeden Tag Touristen durch das alte Schloss, Katze Minnie lässt sich die Sonne auf den goldenen Pelz scheinen. Ewig hätte es so weitergehen können, wäre Kenilworth nicht ein altes Spukschloss gewesen - bis an die Zinnen voll mit "verzauberten Biestern und verbiesterten Zauberern" - und einem uralten Schlossgespenst, Sir Nickel von Kenilworth. Eines Nachts - von McDamn übermütig herausgefordert - nutzt das Gespenst die Gunst der Geisterstunde und rafft sich zu einem "spiritual-materialistischen Offenbarungszwang" auf:

"Das ist das durch keinen vernünftigen Einwand zu bremsende Bedürfnis, unleugbare Zeugnisse eines eigenen, wirklichen Vorhandenseins abzugeben."

Dieser Offenbarungszwang nimmt für Herrn und Katze einen höchst unerquicklichen Verlauf: In einer spektakulären Verwandlungsszene wird McDamn in einen dicken, grauen Kater verwandelt und Minnie in ein Mädchen mit ingwerfarbenem, langen Haar. Doch nicht genug: Das tückische Gespenst hext beide in andere Länder: Den Kater nach Italien, das Mädchen - nun Minnie Ghinga genannt - nach Indien.

Nicht wenige Kritiker verblüffte 1980 das Rühmkorfsche Prosa-Debüt: Ausgerechnet ein Märchen! Doch welche Gattung wäre besser geeignet für Wortartistik und Sprachspielerei, wie Rühmkorf sie in seinen Gedichten und auch hier, genüsslich und immer mit einem ironischen Unterton, zelebriert.

Der indische Magier beispielsweise, bei dem Minnie landet, ist "Inhaber des gläsernen Lotus 1. Klasse und Träger des goldenen Mittelfingers" - und trotzdem ein eher unheimlicher Zauberkünstler, der Minnie Ghingas akrobatische Fähigkeiten entdeckt und für seinen Privatzirkus ausnutzt: Seilklettern, Balancieren in schwindelnder Höhe, waghalsige Sprünge vom Trapez - für einen Menschen sind das erstaunliche Fähigkeiten, für eine Ex-Katze jedoch kein Kunststück.

In Rom, der Welthauptstadt aller Katzen, irrt derweil Kater McDamn orientierungslos durch die Gassen. Nur langsam lernt er, sich Futter zu besorgen, und gewalttätige Beine von Beinen zu unterscheiden, die man getrost umschmeicheln kann, ohne einen Tritt zu kassieren. Durch Zufall gelangt er eines Tages ins Zentrum des kätzischen Lebens, das - angelehnt an die große römische Geschichte -natürlich auf dem Katzen-Forum stattfindet.

"Hier wurde erörtert, ob die Katze nicht durch den Menschen, sondern der Mensch nicht eher von der Katze geprägt worden sei. Hier gingen Philosophien um, derart, dass eine Katze in den landesüblichen Kosten-Nutzen-Rechnungen nicht aufgehe, und dass auch der Mensch sich mehr und mehr durch eine Hinneigung zum Unnützen auszeichne. Aber auch von der Auswanderung in fremde Länder war an einigen Ecken die Rede, obwohl keiner recht zu sagen wusste, wohin es diesen Vetter oder jene Nichte nun verschlagen hatte."

Wir erfahren es jedoch: Viele von ihnen, so auch Kater McDamn, landen erst in den Kisten von Tierfängern und werden dann, per Schiff, in Versuchslabore nach England geschafft. Und dort finden die verwirrten Lebensfäden der beiden Verzauberten wieder zusammen. Minnie Gingha nämlich, ist einem englischen Forscher auf ein Schiff von Indien nach Europa gefolgt, magisch angezogen von dessen Baldrian-Schnaps.

In seinem Tier-Versuchslabor in England entdeckt Minnie durch Zufall den Kater, befreit ihn und andere Katzen von Kabeln und Schläuchen und entflieht - in einem richtigen Showdown - in die Freiheit. Der Weg führt die beiden nach Kenilworth - nur dort kann der Fluch wieder rückgängig gemacht werden. Doch je näher sie dem Ort der möglichen Rückverwandlung kommen, desto unsicherer werden beide.

"War es denn vorstellbar, dass Minnie Ginghas fein gesponnenes Wesen wieder dick verpelzte und ihre unnachahmlich niedliche Gestalt sich gegen eine frühere und kätzische vertauschte? Hieß es nicht auch Wahnsinn für unseren McDamn auf einen zauberischen Schlag die freundliche Gefährtin zu verlieren und selbst als alter Mann ein neues Leben zu beginnen?"

Es wäre Wahnsinn und Peter Rühmkorf nicht er selbst, wenn die Geschichte derart harmlos aufhören würde, Märchen hin oder her. Die Utopie einer heilen Welt, Ende gut, alles gut: Da macht der Dichter nicht mit. "Wir zwei Verrückten gegen die ganze vernünftige Welt" - mit diesem fast trotzigen Ausspruch entlässt er McDamn und Minnie in ihr menschkatz-katzmenschliches Schicksal.

"Ein Wiedersehen in Kenilworth" ist eine Verneigung vor den großen Paten des fantastischen und skurrilen Märchens: E.T.A. Hoffmann, Wilhelm Hauff und Clemens Brentano - und vor allen Katzen und Katern der Weltliteratur, ob gestiefelt oder nicht.

Umso wunderbarer, dass mit Dietmar Mues ein Erzähler zu hören ist, dem die Wörter im Moment des Sprechens zuzufallen scheinen, der Ironie und Spannung ebenso hörbar machen kann wie Humor und Sinnlichkeit. Und bei Märchen gilt doch allgemein: Sie zu lesen ist gut, sie vorgelesen zu bekommen aber: Noch besser!

Rezensiert von Mascha Drost

Peter Rühmkorf: Auf Wiedersehen in Kenilworth
Sprecher: Dietmar Mues
Verlag GoyaLit
Hörbuch, 16, 95 Euro