Verlorenes Paradies

Von Hartmut Krug · 20.09.2009
Für Adam war es wie im Paradies in der DDR. Der Maßschneider lebte mit Evelyn und hatte Liebschaften mit seinen Kundinnen. Doch dann überrascht ihn Evelyn mit Lilli, und Evelyn verlässt ihn.
Mit dem Visum für den gemeinsamen Urlaub in Ungarn flieht sie mit einer Freundin und deren Westcousin an den Balaton. Da Adam sie liebt, fährt er ihr hinterher. Es ist der Sommer des Jahres 1989, die Grenze zwischen Ungarn und Österreich wird durchlässig, und Evelyn will ein neues Leben. Im Westen. Adam will Evelyn und sein altes Leben in der DDR.

Das Paradies, wo und wie ist es? Die Dresdner Bühnenfassung von Ingo Schulzes Roman betont, dass hier eine Geschichte von der Vertreibung aus dem alten und der Suche nach einem neuen Paradies als eine Geschichte vom Erwachsenwerden erzählt wird. Das Publikum sitzt dicht am Geschehen auf der Seitenbühne. Die Szene ist ein hell ausgeschlagener Spielraum, der Urlaubsstrand, vor allem aber ein Denk- und Erinnerungsraum ist. Hier gibt es keinen Realismus, denn auch im Roman ist die gesellschaftliche Realität nur die unwirklich ferne Kulisse für eine Beziehungsgeschichte und die grundsätzliche Frage: Wie will man sein, und wie wird man der, der man ist? Die 30-jährige Regisseurin Julia Hölscher inszeniert und choreographiert diese Geschichte vom Erwachsenwerden als einen spielerischen Tanz der Körperlichkeiten. Anfangs liegen die Menschen, kaum bekleidet, in Badesachen herum, sie strampeln, dehnen und kuscheln sich in Fötushaltung und schaffen langsam den Übergang vom Krabbeln zum Gehen. Mit ihrer Kleidung entwerfen sie Bilder von den Menschen, die sie sein wollen. Man zieht sich an, man zieht sich aus, man streift dem anderen seine eigenen Kleider über, und Evelyn zieht immer wieder in der Sommerhitze ihre warme Jacke für kalte Zeiten über. Die Szenen fliessen ineinander über und die Erinnerungen springen hin und her. Ingo Schulzes fast zeit- und ortlose Parabel wird in der Dresdner Inszenierung von Julia Hölscher und ihren Schauspielern, an der Spitze Karin Plachetka als Evelyn, zu einem tiefsinnigen und zugleich locker sinnlichen Spiel.

Als die Grenze offen ist, muss und kann jeder der beiden sich sein Leben neu entwerfen. Adam will das gewohnte Leben im Osten behalten, Evelyn will ein neuer Mensch im Westen werden. Schließlich geht Adam mit in den Westen und sie erleben in kabarettistisch allzu übersteigerten Szenen bayerisch überströmende Freundlichkeit voll verstecktem Egoismus, - und Adam erfährt, dass er hier als Maßschneider nicht gebraucht wird. So bringt das Erwachsenwerden auch Ernüchterung, und der zuvor hell erleuchtete Raum wird kalt und fahl. Zugleich öffnet er sich weit und wird bis unters Bühnendach begehbar, während Engel mit weißen oder schwarzen Flügeln Adam und Evelyn mit unterschiedlichen Verhaltensweisen begegnen. Am Schluss, Evelyn ist schwanger, entscheiden sich die beiden wieder füreinander, sie sind in ihrem Paradies, endgültig, und die Engel schließen die Tür zur verlockend offenen Entwicklung.

Die Schauspieler und die junge Regisseurin Julia Hölscher, die Ingo Schulzes doch arg schlichte Parabel auf der Bühne in eine sinnliche Mehrdeutigkeit übersetzten und damit für die Bühne retteten, wurden zu Recht vom Publikum gefeiert.