Verkorkster Start als EWG

Wie die europäische Einigungsgeschichte begann

Das historische Schwarz-Weiß-Bild zeigt Adenauer und Hallstein nebeneinander an einem Tisch sitzend vor den Verträgen.
Bundeskanzler Konrad Adenauer (links) und der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Walter Hallstein, unterschreiben am 25. März 1957 in Rom die Gründungsverträge der EWG. © dpa
Von Winfried Sträter · 29.06.2016
Sind die Kräfte der EU erschöpft? Beginnt im Alter von 59 Jahren mit dem Brexit das Siechtum der Europäischen Union? Als sie 1957 als EWG das Licht der Welt erblickte, schien sie bereits eine Totgeburt zu sein – und entwickelte sich doch besser als erwartet.
"Nach dem großen Anfang schien vielfach der Wille, Europa zu schaffen, zu erlahmen.
Das sagte Konrad Adenauer in der Geburtsstunde 1957. Er wusste, wovon er sprach. Denn die schöne Idee von einem vereinten Europa war eigentlich längst gescheitert.
Ein Gemälde zeigt den britischen Staatsmann Sir Winston Churchill mit den Insignien des Hosenbandordens (undatiert).
Schwärmte für Europa: Winston Churchill (1874 - 1965) mit den Insignien des Hosenbandordens.© picture alliance / dpa
"Dies ist keine Bewegung der Parteien, sondern der Völker. Wir können auf nichts Geringeres zielen als auf die Vereinigung Europas als Ganzem. Und wir blicken voll Zuversicht auf den Tag, an dem diese Einheit verwirklicht sein wird."
1948 hatte Winston Churchill beim Europakongress in Den Haag noch geschwärmt – zwei Jahre, nachdem er in Zürich den Aufbau der Vereinigten Staaten von Europa gefordert hatte:
"Würde Europa je vereint das gemeinsame Erbe antreten, dann wären das Glück, der Wohlstand und der Ruhm grenzenlos, die seine 300- oder 400 Millionen Einwohner genießen würden."

Der Traum vom Wohlstand ohne Grenzen

Grenzenloser Wohlstand durch ein grenzenloses Europa. Ein fantastischer Traum in einer Zeit, in der der Kontinent in Trümmern lag, aber selbst das unvorstellbare Desaster reichte nicht, um Staaten und Nationen zu vereinen. Ein Europarat wurde geschaffen, aber von ihrer Souveränität gaben die Staaten nichts ab. Die von Europa überzeugten Politiker nahmen das jedoch nicht hin. Sie entwickelten eine kreative Fantasie, Umwege ausfindig zu machen, um doch noch weiterzukommen.
"Kohle, Eisen und Stahl sind nunmehr Gemeingut geworden einer europäischen Bevölkerung von 156 Millionen Einwohnern, 'Klein-Europa' sagt man mit Geringschätzung – ein Europa, das 156 Millionen zählt, das ist nicht so klein. Und das ist für einen Anfang schon immerhin etwas."
Das war 1951 – der französische Außenminister Robert Schuman. Immerhin etwas: Kohle- und Stahlindustrie aus der nationalen Souveränität herauslösen und unter die Kontrolle einer supranationalen Institution stellen – der Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS).
"Es handelte sich eben auch darum, psychologisch zu wirken. Wir müssen uns doch darüber klar sein, dass französische Bevölkerungskreise vielfach noch immer in dem Gedanken leben, dass Deutschland ein eventueller, zukünftiger Gegner sein würde."
Erklärte Bundeskanzler Adenauer später. Der große nächste Schritt sollte die Überwindung nationaler Armeen sein: die Europäische Verteidigungsgemeinschaft. Alles war schon gerichtet – da legte die französische Nationalversammlung 1954 ihr Veto ein. Der europäische Einigungsprozess war gescheitert, er blieb in der Keimzelle EGKS stecken.

Eine Handels- und Zollunion als Ausweg

Wenn gar nichts anderes mehr geht, könnte man sich ja wenigstens wirtschaftlich enger zusammenschließen, zu einer Freihandelszone und Zollunion: Diesen Ausweg hatten die Holländer vorgeschlagen. Man verhandelte. Mühsam, aber erfolgreich.
"Heute Morgen begrüßte mich das siebenjährige Töchterchen meiner Nachbarn ganz besonders freudig und rief mir zu: Andiamo vacanza oggi! Wir haben heute schulfrei! Perché fanno le Europa. Weil sie Europa machen."
Rom 1957. Die Gründung der EWG war der kleinste gemeinsame Nenner, auf den sich die sechs Gründungsstaaten einigen konnten. Allen Unkenrufen zum Trotz markierte die Notlösung EWG den Beginn jenes Einigungsprozesses, der weltweit bestaunt wurde, nun aber an einem Wendepunkt angekommen sein könnte.
Von Anfang an war es ein mühsames Geschäft, und die Grundlage dieses Geschäfts waren einfallsreiche und verantwortungsbewusste Politiker. Jene politische Elite, die von Populisten heute geschmäht und verachtet wird.

Die EWG startete ohne die Briten

Und die Briten? Churchill hatte bei den Vereinigten Staaten von Europa noch an den Kontinent gedacht, nicht an sein eigenes Königreich. Die EWG wurde denn auch ohne die Briten gegründet – die hatten vor 1957 sogar die Verhandlungen gestört, weil sie den wirtschaftlichen Zusammenschluss mit Argwohn betrachteten.
(L-r): Bürgermeister Paul Nevermann, Charles de Gaulle und Verteidigungsminister Franz Josef Strauß. Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle besuchte am 07.09.1962 die Führungsakademie der Bundeswehr in Hamburg.
Der französische Staatspräsident Charles de Gaulle wies das Beitrittsgesuch der Briten ab.© picture alliance / dpa
Als die Briten dann doch beitreten wollten, 1961, wies der französische Staatspräsident de Gaulle sie ab:
"Großbritannien ist ein insulares, ein maritimes Land. Die Natur, die Struktur und die Konjunktur, die Großbritannien eigen sind, unterscheiden sich zutiefst von denen der Länder auf dem Kontinent."
Mit derartigen Argumenten hätte man auch Bayern und Schleswig-Holstein auseinanderdividieren können. De Gaulle lehnte britische Beitrittsgesuche gleich zwei Mal ab, 1963 und 1967. Erst nach seinem Tod öffnete sich für die Briten das Tor nach Europa.
"Sie, die Gemeinschaft, braucht Großbritannien ebenso wie die anderen beitrittswilligen Länder. Im Zusammenklang der europäischen Stimmen darf die britische keineswegs fehlen, wenn Europa sich nicht selbst schaden will."
Dafür plädierte Willy Brandt Anfang der 70er-Jahre. 1973 gehörte Großbritannien endlich der EG – wie die EWG nunmehr hieß - an und eine Volksabstimmung ergab ein klares Votum für die EG. Eigentlich erstaunlich, wenn man bedenkt, wie sehr die Briten in den 60er-Jahren von Kontinentaleuropa gedemütigt worden sind.

Die nackte Ratlosigkeit der Brexit-Protagonisten

Damals hätte ein Brexit Europa noch nicht ins Mark getroffen. Heute droht es einen europäischen Zerfallsprozess einzuleiten – es sei denn, die europäische Politik zeigt wieder die in den Gründungsjahren entwickelte Kunst, Auswege aus verfahrenen Situationen zu finden.
Die Alternative? Immerhin bekommen wir schon mal einen Einblick in die Kleiderkammer der Populisten. "Des Kaisers neue Kleider": Sie stehen nackt auf der Bühne, die Brexit-Protagonisten, mit ihrer Ratlosigkeit.
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