Verklärte Borniertheit im Märchengewand

Von Georg-Friedrich Kühn · 28.12.2010
Bekannt ist Engelbert Humperdinck vor allem durch seine Oper "Hänsel und Gretel". Hingegen wird sein Hauptwerk "Königskinder" so gut wie nicht mehr gespielt. Am 28. Dezember 1910 wurde diese Märchenoper an der Metropolitan Opera New York uraufgeführt.
Zunftfest in Hellastadt. Die Ratsherren und das Volk sind versammelt. An diesem Tag soll der neue König gekürt werden. Schlag 12 Uhr Mittag soll er durchs Stadttor kommen, so ist geweissagt.

Es kommt ein junger Mann, abgerissen wie ein Schweinehirt. Die Leute lästern über den "neuen König". Nur die Gänsemagd nicht. Sie erkennt in ihm den Mann, der sich im Wald auf der Jagd verirrt hatte. Schon da wollte sie mit ihm gehen, fliehen vor der Hexe, in deren Bann sie stand. Aber sie musste erst ihre Angst überwinden. Nun trotzt sie auch dem Spott der Leute. Sie beide sind in Wirklichkeit Königskinder, vom Volk wegen ihres armseligen Äußeren verkannt, verjagt.

1908 bis 1910 arbeitete Engelbert Humperdinck an seiner Oper "Königskinder", ursprünglich entstanden als Schauspielmusik für ein gleichnamiges Bühnenmärchen von Ernst Rosmer, alias Elsa Bernstein. Dies Melodram wurde uraufgeführt 1907 in München.
Schnell reifte die Idee, das Werk zu einer Oper auszuweiten. Das Libretto schrieb der Wagner-Schüler Humperdinck sich selbst. Berühmt geworden war er durch seine von Richard Strauss 1893 in Weimar uraufgeführte Oper "Hänsel und Gretel", ein Kassenschlager weltweit.

So wetteiferten viele Bühnen, diese neue Oper uraufzuführen oder nachzuspielen. Den Zuschlag bekam die New Yorker Metropolitan, an deren "Hänsel-und-Gretel"-Produktion der Komponist sich gern erinnerte. Zur Uraufführung am 28.Dezember 1910 reiste Humperdinck über den Atlantik, überwachte auch die Endproben selbst.

"Man hatte einem denkwürdigen Ereignis beigewohnt. Humperdincks Königskinder ist die wertvollste deutsche Oper der Nach-Wagner-Zeit."
So urteilte die "New Yorker Staatszeitung". Drei Wochen zuvor war an der Met Puccinis pulsierendes Wildwest-Drama "La fanciulla del West" uraufgeführt worden. Ein denkbar scharfer Kontrast: Harter Realismus dort, Märchenidyll hier, für das indes auch Puccini sich begeisterte:

"Ich bin ein Bewunderer Ihrer poesievollen Kunst. Sie ist wie eine duftende Rose inmitten so vieler verworrener Triebe."

Die europäische Erstaufführung von Humperdincks "Königskinder" brachte wenig später die Königliche, heute Staatsoper, Berlin heraus. Der Humperdinck-Schüler Leo Blech dirigierte. Sechzig weitere Bühnen folgten.

Weniger begeistert war die deutsche Presse. Zwar gibt es kein Happy-End; Spielmann und Dorfjugend finden die Königskinder verhungert im Wald. Mit ihren vielen Anspielungen an wagnersche Topoi galt diese Märchen-Parabel aber als eklektisch.

Wiederaufführungen an Bühnen heute sind rar, trotz der wunderbaren Musik, von deren virtuos changierender Harmonik der berühmteste Humperdinck-Schüler, Kurt Weill, besonders profitierte.

Humperdinck selbst schätzte die "Königskinder" als sein Hauptwerk, so sein Sohn Wolfram:

"Trotz der häufigen Störungen waren die Jahre der Entstehung der Königskinder-Oper eine der glücklichsten Schaffensperioden des Meisters gewesen. Das Leben und Leiden der verkannten Königskinder, ihr Untergang in einer Welt des Hasses und niedriger Borniertheit, ihre ergreifende Verklärung im Kinderlied und Spielmannsgesang hatten ihm Klänge gegeben, von denen er selbst einmal sagte, sie seien mit Herzblut geschrieben."