Vergessenes Relief "Gläserne Stadt"

Tragödie unter der Erdoberfläche

Luftaufnahme der Documenta-Stadt Kassel
Kassel von oben: Das zeigt auch das Relief von Dieter von Andrian - in seinem Zustand nach dem Krieg © Imago / Hans Blossey
Von Ludger Fittkau  · 07.06.2017
Unter dem alten Hauptbahnhof in Kassel rottet das Relief "Gläserne Stadt" vor sich hin - seit einem Jahrzehnt schon. Erschaffen wurde es in der 60er-Jahren von dem Künstler Dieter von Andrian. Im Rahmen der Documenta kann man es sich nun noch einmal anschauen. Doch man sollte sich beeilen.
Vom Vorplatz des alten Kasseler Hauptbahnhofs – heute heißt er Kulturbahnhof – geht es über eine Treppe unter die Erde. Nach wenigen Metern stoppt Christoph Platz, der Leiter der Ausstellungsabteilung der documenta 14, in einer stillgelegten U-Bahn-Station, die demnächst mit Beton verfüllt werden soll. Vor uns liegt ein 13 Meter langes Relief aus Beton und Glas. Es sieht aus wie ein quergelegtes, modernes Kirchenfenster:
"Wir aktivieren hier jetzt zum allerletzten Mal diese Ruine und finden hier eine Glasarbeit von Dieter von Andrian, der einen abstrahierten Kassel-Stadtplan aus buntem Glas geschaffen hatte. Der hat später auch andere Arbeiten gemacht, Synagogenfenster gestaltet und ähnliches. Also auch ein wirklicher 'Craftsman'."

Ein monumentales Werk

Dieter von Andrian war Ende der 1950er Jahre Assistent des documenta-Gründers Arnold Bode. Seine "Gläserne Stadt" unter dem alten Hauptbahnhof von Kassel ist ein monumentales Werk aus dem Jahr 1968.
"…und man sieht hier oben rechts das Logo der Stadt Kassel und ganz links, wir können mal rübergehen, findet man den Herkules."
Die Herkules-Figur an der Spitze des UNESCO-Bergparks Wilhelmshöhe ist das Wahrzeichen Kassels. Das Relief mit dem Kassel-Stadtplan aus Beton und Glas weckt Assoziationen an Bilder kriegszerstörter Städte. Christoph Platz:
"Das ist natürlich ein elementar historisches Trauma dieser Stadt, 1941 und '43 bei alliierten Bombenangriffen so stark zerstört worden zu sein. Die Zahl liegt ungefähr bei 85 Prozent Zerstörung der inneren Stadt. Natürlich verbunden mit der Schwerindustrie hier und natürlich dem Waffenbau. Ungebrochene Geschichte - wiederum für viele Künstler relevant."

Vielleicht die allerletzte Gelegenheit

Während documenta-Gründer Arnold Bode in Kassel unvergessen ist, verfällt das imposante Relief seines 1992 verstorbenen Schülers Dieter von Andrian seit einem Jahrzehnt – seit der Stilllegung der U-Bahn-Station. Alle Versuche, das Werk zu retten und an einem anderen Platz aufzustellen, scheiterten bisher an rechtlichen Streitereien und Geldmangel - eine kunstpolitische Tragödie, auf die die documenta 14 jetzt noch einmal das Scheinwerferlicht richtet. Christoph Platz:
"Es gibt noch ein langandauerndes Gespräch – seit über zehn Jahren – zwischen dem Stadtmuseum, der Stadt Kassel und den Erben, in irgendeiner Weise eine Möglichkeit zu finden, diese Arbeit hier raus zu karren. Wir haben jetzt einige der zerstörten Teile geflickt und ersetzt, ohne da jetzt restauratorisch tätig werden zu können."
Die Besucher der diesjährigen documenta 14 sollten sich also den Gang in den Untergrund unter dem alten Hauptbahnhof nicht entgehen lassen. Es kann die letzte Möglichkeit sein, Dieter von Andrians "Gläserne Stadt" noch einmal sehen zu können. Gut möglich, dass sie dann nach Ende der diesjährigen documenta im Beton versinkt - denn die alte U-Bahn-Station soll aus Sicherheitsgründen bald komplett verfüllt werden: "Dennoch ist es wichtig für uns, ein solches vorhandenes Kunstwerk, das natürlich auch mit Arnold Bode verknüpft ist, wieder sichtbar zu machen und sei es nur für den Moment."
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