Vergessene Exzesse

Von Sieglinde Geisel · 31.12.2008
Der Mensch hält das Vergehen der Zeit nur aus, wenn er ihr einen Rhythmus verleiht. Dies gilt schon für den einzelnen Tag. Jeder weiß, wie schnell man innerlich aus der Façon gerät, wenn man einfach so in den Tag hinein lebt. Was im Kleinen gilt, ist auch im Großen wahr: Das Jahr wäre unerträglich, wenn ein Tag wäre wie der andere.
Zumindest in den gemäßigten Zonen hilft uns die Natur mit den Jahreszeiten, doch der Mensch braucht mehr. Deshalb hat er das Feiern erfunden. Keine Kultur ohne regelmäßig wiederkehrende Feste, denn diese verschaffen dem Jahr seine Höhepunkte und dem Leben eine Form.

"Hôchzît", so nannte man im Mittelalter nicht nur die Hochzeit, sondern jedes hohe Fest. Feiern sind eine hohe Zeit, eine Zeit, die buchstäblich aus dem Alltag herausragt. Sie verleihen der Zeit eine Bedeutung und dem Leben Sinn. Aus welcher Quelle sich dieser Sinn speist, ist nicht entscheidend.

Doch folgt man der Wurzel des Worts "Fest", wird der religiöse Ursprung offenbar. Das deutsche Wort "Fest" geht auf das lateinische Wort "fanum" zurück. Fanum bedeutet: "heiliger Ort". Von fanum leitet sich allerdings auch das Wort "Fanatismus" her. Ein Fest ist ein Anlass, bei dem die Menschen auch außer Rand und Band geraten können.

In vormodernen Gesellschaften ist ein Fest ohne Exzess kein Fest. Hochzeiten dauern mindestens drei Tage - bei den Römern wurden die Saturnalien gar auf sieben Tage ausgedehnt. Doch Feste dienen nicht nur dazu, dem Leben Höhepunkte zu verleihen. Sie haben noch eine zweite, paradoxe Funktion. Gerade die zügellosen Ausschweifungen sind es, die den Alltag stabilisieren, das ist das Geheimnis des Karnevals.

Wer ab und zu richtig über die Stränge hauen darf, unterwirft sich danach umso bereitwilliger wieder den Regeln der Gesellschaft. Anarchie ist es nur, wenn man mit etwas nicht aufhören kann, schrieb einst der englische Essayist Gilbert Chesterton. Die Begrenzung der Ausnahmezeiten ist denn auch sakrosankt. Würden sich die Ausschweifungen auf den Alltag ausdehnen, wäre der gesellschaftliche Sinn des Feierns bedroht.

In der Moderne allerdings scheint die Gefahr überbordender Ausschweifungen gering. Denn wir haben das exzessive Feiern überhaupt verlernt - zu groß ist unsere Angst vor dem Kontrollverlust, und überdies ist uns der Kontakt zum Mythischen abhanden gekommen. Auch der Silvester, unser lärmigstes Fest, ist längst säkularisiert.

Ursprünglich war der Jahreswechsel eine Zeit des Übergangs und der Geister. Für die Menschen öffnete sich in der Neujahrsnacht einen Spalt breit das Tor zum Übersinnlichen. Man meinte, in die Zukunft blicken zu können, und man beging magische Handlungen. Es bringt Glück, wenn man um Mitternacht beim zwölften Glockenschlag vom Tisch springt. Wer in der Neujahrsnacht eine Hagebutte isst, ohne ein Wort zu sagen, bleibt im neuen Jahr von Krankheiten verschont.

Wir praktizieren zwar noch ein paar wenige der unzähligen Silvesterbräuche - die Magie jedoch ist verschwunden. Das Feuerwerk, das wir in die Neujahrsnacht krachen lassen, vertreibt keine Geister mehr. Bleifiguren verraten nicht mehr unsere Zukunft, sie sind ein bloßer Scherzartikel. Und wer weiß noch, dass Glückwünsche zum Neujahr ein Zauber sind, und zwar kein harmloser? Wer den ersten Neujahrsglückwunsch von einer alten Frau erhält, muss in diesem Jahr sterben, so ein böser Aberglaube.

Und wie steht es mit dem Karnevalseffekt? Ein Ventil zum Dampfablassen sind die Feiertage von Weihnachten bis Neujahr wohl nur im Ausnahmefall. Die Abfolge von unstrukturierten Tagen bedeutet keine Erlösung von der Fron des Alltags.

Im Gegenteil: Je länger sie dauern, desto mehr empfindet man sie als Störung. Allerdings hat diese Störung die gleiche konformistische Wirkung wie der Exzess. Hand aufs Herz: Wer freut sich nicht aufs Büro, in dem auch im neuen Jahr - hoffentlich! - alles so ist, wie es immer war?

Sieglinde Geisel, wurde 1965 in Rüti/ZH in der Schweiz geboren. Sie studierte in Zürich Germanistik und Theologie und zog 1988 nach Berlin-Kreuzberg. Nach dem Mauerfall verlagerte sich ihr Interesse in den Osten, im Auftrag der Neuen Zürcher Zeitung reiste sie für eine Reihe von Städteporträts in die Metropolen Ostmitteleuropas, lebte vorübergehend in Lublin, Polen. 1994 ging sie nach New York, wo sie für vier Jahre als Kulturkorrespondentin für die Neue Zürcher Zeitung tätig war. Im Januar 1999 kehrte sie auf eigenen Wunsch nach Berlin zurück. Als freie Journalistin schreibt sie seither über kulturelle und soziale Themen. Im Sommer 2002 erschien in der Schriftenreihe der Vontobel-Stiftung Zürich ihr Beitrag "McDonald's Village"