Verführen und fallen lassen

02.05.2013
Kein Werk des dänischen Existenzphilosophen Søren Kierkegaard hat so hohe Wellen geschlagen wie sein "Tagebuch des Verführers", die Geschichte eines Mannes, der ein junges Mädchen verführt und dann fallen lässt.
"Es ist das Entweder-Oder", das die Menschen über die Engel erhebt. Es ist diese Möglichkeit und dieses Gebot zu wählen, das Søren Kierkegaard über Hegel erhebt. Er streitet gegen ein "objektiv-wahres" System, das die schöpferisch-individuelle Originalität nur unterdrückt. Das Entweder-Oder wird zur Devise seines Lebens; es macht die Wahl zur Grundlage der menschlichen Natur.

Kierkegaards zweiteiliges Opus magnum "Entweder-Oder" erschien 1843, am Ende des ersten Teils steht das "Tagebuch des Verführers", in seinem Mittelpunkt: Johannes und Cordelia. Ihre Echtnamen lauten Søren Kierkegaard und Regine Olsen. Es ist die Geschichte einer infam ausgeklügelten Verführung, einer "sinnlich-strategischen Liebesgeschichte", so Elmar Krekeler im Nachwort. Jean Baudrillard nannte sie das "Szenarium eines perfekten Verbrechens".

Der angehende Philosoph lernte Regine schon im Mai 1837 kennen, sie ist 15, er ist eben 24 geworden. Der junge Mann ist redegewandt, geistreich, ein bisschen arrogant und nicht zuletzt elegant gekleidet: für ein pubertierendes junges Fräulein alles sehr verwirrend – und interessant. Es kommt zur Verlobung. Aber der Gegensatz zwischen beiden ist krass: Er, der Mann mit der "Veranlagung zum ständigen Spekulieren, Charakterisieren und Distinguieren". Sie, das "hübsche, kleine, lebenslustige Mädchen, das, rein und unschuldig, nichts besaß, woran es zu denken hatte" – so charakterisierte sie der dänische Kritiker Georg Brandes.

Schon zwei Tage nach der Verlobung kommen Kierkegaard Bedenken: "Ich hätte sie in entsetzliche Dinge einweihen müssen, in mein Verhältnis zu Vater, seine Schwermut, die ewige Nacht, die im tiefsten Innern brütet, meine Verirrung, meine Lüste und Ausschweifungen …" Kierkegaard verarbeitet diese Erfahrung literarisch. Denn sowohl der Tod des Vaters, eines allmächtigen, aber lieb- und freudlosen Wollhändlers, als auch die Trennung von Regine, der einzigen Frau, die Kierkegaard geliebt hat, waren nötig, damit er endlich seiner Berufung nachkommen konnte: dem Schreiben.

Als "reflektierender" Don Juan verfolgt Johannes einen ausgeklügelten Plan mit einer diabolischen Strategie. Er spannt Cordelia den Verlobten aus, verlobt sich selbst mit ihr, da erscheint ihm aber der Sieg zu einfach, er bringt sie dazu, die Verlobung wieder zu lösen – und nun erst stellt er ihr ernsthaft nach, um sie "in ihrer Freiheit zu besitzen". Dann lässt er sie fallen, denn es kam in diesem Falle ausschließlich auf die Verführung an, sie hat mit der Unschuld den "Gehalt ihres Wesens" verloren, "von jetzt an kann sie meine Seele nicht mehr beschäftigen". Aber auch das war eine Wahl.

Besprochen von Peter Urban-Halle

Søren Kierkegaard: Tagebuch des Verführers
Aus dem Dänischen von Gisela Perlet
Nachwort von Elmar Krekeler
Manesse Verlag, Zürich 2013
320 Seiten, 19,95 Euro
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