Vererbte Klugheit

Von Doris Anselm · 12.02.2012
Die Antwort auf seine Titelfrage "Ist Intelligenz erblich?" gibt der Wissenschaftsjournalist Dieter E. Zimmer gleich zu Beginn seines Buches: Ja, und zwar zu 75 Prozent. Eine spannende Wissenschaftsgeschichte ist das Buch allemal - aber leider stellt es nicht unbedingt klar.
Die Antwort auf das Leben, das Universum und den ganzen Rest lautet: 42. Ein riesiger Computer fördert dieses völlig unbrauchbare Ergebnis zutage - in der Romanreihe "Per Anhalter durch die Galaxis". Die Episode aus dem Klassiker der Science-Fiction-Literatur ist ein weiser Kommentar zur Rechenmanie und zum Zahlenzauber in der Forschung.

Dieter E. Zimmers Antwort auf - naja, fast - alles lautet: 75. Zu 75 Prozent haben die Unterschiede zwischen den Intelligenzquotienten der Menschen genetische Ursachen. Werte rund um dieses Ergebnis haben viele Forscher errechnet, in aufwendigen Zwillingsstudien, Langzeitstudien, Wiederholungsstudien. Das ist durchaus glaubhaft! Aber was soll man jetzt mit der Zahl anfangen?

Immerhin scheint sie die Titelfrage des Buches zu beantworten, ob Intelligenz erblich sei. Ja, sie ist es! Nur leider stellt sich schon in der dritten Zeile der Einleitung heraus, dass das gar nicht die Frage war, die sich der Journalist gestellt hatte. Sondern er will zu den viel diskutierten heiklen Ideen Thilo Sarrazins wissenschaftlich Stellung nehmen. Der Politiker hatte in seinem Buch "Deutschland schafft sich ab" unter anderem angedeutet, dass Türken hierzulande meist Gemüsehändler würden, weil sie für alles Andere zu blöd seien, was leider auch keine Schule ändern könne.

Gleich vorweg: Dieter E. Zimmer nennt Sarrazins Behauptungen "nebulös" und "fahrlässig", nachdem er dessen Quellen und Theorien sorgfältig geprüft hat. Seine eigene Einschätzung der Chancen "minderbefähigter" Menschen ist allerdings nicht weniger negativ.

"Ob sie wegen bildungsferner Eltern, mangelhafter Schulen oder genetischer Grenzen minderbefähigt sind, kann in diesem Zusammenhang gleichgültig sein, denn bisher lässt sich weder erzieherisch noch biologisch aus einem Minderbegabten ein Hochbegabter machen."

Nein, es ist eben nicht gleichgültig. Niemand verlangt von Schulen, dass sie lauter Hochbegabte ausbrüten. Aber das Bildungssystem muss durchaus verhindern, das Kinder in der Schule nur deswegen versagen, weil Eltern und Familien bildungsfern sind.

Dieter E. Zimmer jedoch spricht geradezu angewidert von der pädagogischen Sozialgläubigkeit, die er besonders seit den 60er-Jahren in westlichen Gesellschaften ausmacht. Und mitten hinein geht es mit ihm in die gute, alte Anlage-Umwelt-Debatte - ein Hauen und Stechen seit Platon: Die Einen halten jeden Menschen für ein ohnmächtiges Produkt seiner Erbanlagen, für die Anderen ist er ein leeres Blatt, das von seiner Umwelt beschrieben wird. Dieter E. Zimmer schlägt sich mit seinen gut belegten 75 Prozent eher auf die erste Seite.

Doch interpretiert er Forschungsergebnisse auf zweifelhafte Art, indem er von einer Erbe-plus-Umwelt-Theorie ausgeht. Er stellt sich das in etwa so vor:

"Erklären bei einem Kind die Gene 50 Prozent der Gesamtvarianz, die Familienumwelt 32 und die Messungenauigkeit 5, so bleiben der Individualumwelt 13 Prozent."

Da "füllt" die Umwelt quasi "auf", was die Gene offenlassen. Die meisten Standardwerke der Psychologie und Biologie halten das inzwischen für Quatsch. Der Einfluss von Genen und Umwelt ist nicht additiv, sondern multiplikativ: Die gleiche Umwelt wirkt verschieden auf Menschen mit verschiedenen Genen.

Ansonsten liefert Dieter E. Zimmer hochspannende Wissenschaftsgeschichte: Er dröselt auf, wie Intelligenzquotient und IQ-Tests konstruiert sind, um möglichst "kulturneutral" zu funktionieren. Dass sie das noch immer nicht tun, sieht er nur ungern ein. Auch der so genannte Flynn-Effekt macht ihn nervös. Flynn hatte entdeckt, dass die IQ-Skala regelmäßig nachjustiert werden muss, weil jede neue Generation bei den gleichen Tests immer besser abschneidet.

"Unsere Urgroßeltern hätten damit nach heutigen Maßstäben einen mittleren IQ unter 70 gehabt, wären also überwiegend im Bereich dessen angesiedelt gewesen, was früher unzart Schwachsinn hieß und heute geistige Behinderung. Und nach damaligen Maßstäben hätte heute die große Mehrheit einen IQ-Durchschnitt von 130, sodass in den Augen der Vorfahren die Welt von Intelligenzbestien wimmeln müsste. Dergleichen hätte doch wohl auffallen müssen!"

Ist es auch. Und viele skeptische Wissenschaftler haben daraus den Schluss gezogen, dass IQ-Tests nichts messen außer, wie gut jemand im IQ-Test ist. Klar, es geht um Fähigkeiten, die Menschen in ihrer Umwelt für wichtig halten und über Generationen hinweg immer stärker einüben. Besonders verbessert hat sich die getestete Menschheit nämlich in den Aufgaben, die Symbole verwenden. Kein Wunder in einer globalisierten Welt voller Piktogramme - auf jeder Milchtüte und an jedem Flughafen.

So wird nachjustiert und nachjustiert am IQ-Test. Komisch. Ein Thermometer oder eine Uhr mit Flynn-Effekt wäre schon längst auf dem Müll gelandet. Der Wissenschaftsjournalist Zimmer aber hängt am IQ. Also sucht und sucht er nach Gründen für die Inflation immer höherer IQs. Und landet bei verbesserter Ernährung, weniger Kinderarbeit und mehr Gesundheitsvorsorge. Das alles kann der Intelligenz sicher nicht schaden - aber die Zweifel am IQ-Test wischt es auch nicht vom Tisch.

Oft macht es trotzdem Spaß, dem Autor auf dem Weg durch die Wissenschaftswelt zu folgen. Den Arbeitsspeicher des Gehirns erklärt er am Beispiel "Lesen" so plastisch, dass man meint, die Vorgänge im eigenen Kopf regelrecht zu spüren - beim Lesen.

"Kürzere Sätze können wir gleich nach dem Lesen im Wortlaut wiederholen, aber je länger sie werden, desto schwerer fällt es uns, und irgendwann können wir es gar nicht mehr und geben nur noch die dem Satz extrahierten Sinneinheiten wieder. Und da wir ständig damit rechnen müssen, dass gleich die Kapazitätsgrenze für einzelne Wörter überschritten wird, müssen wir beim Lesen oder Zuhören von vornherein laufend Wortgruppen zu Sinngruppen zusammenfassen."

Zum Einstieg in die Themen "Intelligenz" und "Erblichkeit" eignet sich Zimmers Buch trotzdem nicht, eher zum Mitdiskutieren. Es fehlt ihm trotz aller Zahlenliebe an Neutralität. Viel zu salopp legt der Autor Forschungsergebnisse in seinem Sinne aus. Etwa, wenn er sagt, die Erblichkeit von Intelligenz stehe fest, weiter erforscht würden nur Feinheiten am Rande. Wer sagt, was hier eine Feinheit ist?

Abweichende Meinungen baut er sich gern als Pappkameraden auf, die er mittels Polemik ganz leicht erledigen kann. Uneheliche Geburten bezeichnet er als "sozialen Missstand" - aber das muss ihm so durchgerutscht sein. Sonst hätte jedes dritte deutsche Baby ein Problem - auch, wenn seine Eltern seit Jahren zusammenleben.

Dabei haben Babys heute schon genug Probleme - und Dieter E. Zimmer packt Ihnen gleich noch eins in die Wiege. Er macht es leichter, ein Kind aufzugeben, nach dem Motto: "Du bist eben einfach zu blöd." Denn wenn man sich endlich eingestehe, so Zimmer hoffnungsvoll, dass Intelligenzunterschiede von den Genen mitbedingt sind, dann hieße das:

"Eltern, Lehrer und die Verantwortlichen der Bildungsverwaltungen müssten nicht mehr befürchten, sie hätten trotz aller Bemühungen versagt, wenn sie nicht jedem Kind zum Abitur verhelfen."

Im Moment verhelfen sie allerdings nicht einmal jedem Kind zum Hauptschulabschluss. Doch bei Dieter E. Zimmer ist davon keine Rede. Auch nicht von anderen Faktoren des Schulerfolgs oder -misserfolgs, von Diskriminierung, Pubertätseffekten oder Sprachproblemen. Intelligenz ist teilweise erblich, ja. Klargestellt, wie der Buchtitel verspricht, ist damit aber noch gar nichts.

Dieter E. Zimmer: Ist Intelligenz erblich? Eine Klarstellung
Rowohlt Verlag, Reinbek 2011
Buchcover "Ist Intelligenz erblich?" von Dieter E. Zimmer
Buchcover "Ist Intelligenz erblich?" von Dieter E. Zimmer© Rowohlt Verlag
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