Verdrängtes Erbe einer Kolonialmacht

Von Eberhard Spreng · 26.05.2010
Der Afrikaner Alboury hat sich in eine bewachte Baustelle eingeschlichen und verlangt von dem Bauleiter Horn die Herausgabe des Leichnams seines angeblich bei einem Unfall getöteten Bruders.
Wie immer bei Koltès, reichen die Forderungen vom Konkreten ins Allgemeine, werden die oft nächtlichen Verhandlungen und Deals der Protagonisten zu grundsätzlichen Kämpfen zwischen Oben und Unten, Arm und Reich, zu Kämpfen zwischen Gesellschaften und Kontinenten.

Michael Thalheimer hat das in Frankreich gerne verdrängte koloniale Erbe ins Zentrum seiner Aufführung gestellt. Bei ihm spielt ein elfköpfiger Chor von schwarzen Schauspielern die Figur, der als Projektionsfläche für Ängste, Verdrängungen und heimliche Erwartungen von drei Europäern dient: Für Horn, seine viel jüngere, gerade aus Paris angekommene Verlobte Léone und den nervösen, psychisch labilen Ingenieur Cal.

Vor allem ist dieser Chor, der zunächst vom dunklen Hintergrund der Bühne aus durchs Spielfeld den Zuschauern geradewegs ins Auge schaut, ein zweiter Blick, ein zweites Publikum. Damit entfernt sich Thalheimer von der naturalistischen Fundierung, die man in Frankreich bei Koltès-Stücken erwartet. Die nächtliche Baustelle ist zu einem schwarzen Schacht geworden, mit hoch aufragenden Seitenwänden, einem Geländerbewehrte Umgang und einer in die Tiefe abfallenden Schräge.

Wie in den deutschen Thalheimer-Inszenierungen hat Olaf Altmann eine Metapher gebaut, die nicht eine immerfort vom afrikanischen Außen bedrohte europäische Enklave darstellt, sondern ein finsteres Seelengefängnis, in dem keiner das eigene Exil überwinden kann: Sprechen als Vorbeireden, ein Kommunizieren nur im Monolog. Es ist aber auch eine Vorhölle für europäische, besser: französische Lügenbolde.

Die stringente Lesart des Stückes setzt sich, anders als in den deutschen Thalheimer-Inszenierungen, nicht ganz ungebrochen im Spiel der französischen Akteure um: Charlie Nelson spielt den stämmigen Baustellenleiter mit kreatürlicher Hemdsärmeligkeit, Stefan Konarske gibt hingegen allenfalls eine ausgeflippte Karikatur des nervösen Ingenieurs Cal. Lediglich Cécile Coustillac zeigt als Léone die spezifischen Thalheimer-Manierismen.

Der Regisseur hat die Figuren des Bernard-Marie Koltès zu Typen verkürzt, die ihre persönliche Einsamkeiten ohne jede Schattierung verhandeln. Gleichwohl: Das französische Publikum freut sich über die emotional aufgeladene Gastinszenierung des deutschen Regisseurs in dem von Thalheimers französischem Seelenbruder Stéphane Braunschweig geleiteten Théâtre de la Colline.