Veranstaltungsreihe "Miteinander leben"

    Auf dem Weg zum europäischen Islam

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    © Deutschlandradio/Bertelsmann
    03.06.2016
    Musliminnen und Muslime leben schon seit vielen Jahrzehnten in Deutschland und Österreich, doch ihre Zahl nimmt durch die neuen Migrationsbewegungen stark zu. Ist hier Platz für ihren Glauben? Und wie gestaltet sich das Miteinander mit anderen Religionsgruppen und mit Menschen, die Religion am liebsten ganz aus der Öffentlichkeit verbannen würden?
    In der dritten Podiumsdiskussion der Veranstaltungsreihe "Miteinander leben" von Deutschlandradio, Bertelsmann-Stiftung und ORF geht es am Freitag, dem 3. Juni in der Berliner Bertelsmann-Repräsentanz um das Zusammenleben in pluralen Gesellschaften.
    Auch wenn der Islam bereits seit langem zu Deutschland und Österreich gehört, besteht die Frage, welchen Raum ihm die Mehrheitsgesellschaft jeweils gibt und welche Ansprüche sie an ihn stellt. Muss das Kopftuch abgelegt werden, muss jeder Händedruck zwischen Männern und Frauen akzeptiert werden, damit die Demokratiefähigkeit bewiesen ist? Welcher Umgang mit Fundamentalismus und Radikalisierung ist gesellschaftlich geboten? Braucht es neue Konzepte für einen europäischen Islam oder haben die hier lebenden Muslime schon längst einen Weg gefunden, ihren Glauben und ihr Leben in dieser Gesellschaft zu verbinden? Und welche Rolle spielen dabei die muslimischen Verbände und die Institute für Islamische Theologie?
    Es diskutieren:

    Wolfgang Thierse, Bundestagspräsident a.D., Berlin
    Marwa El Roumy, Jugend der Ligakultur, Wien
    Prof. Dr. Ednan Aslan, Religionspädagoge an der Universität Wien
    Dr. Bekir Alboga, Generalsekretär der DITIB, Köln
    Moderation: Dr. Sebastian Engelbrecht, Deutschlandradio

    Die Veranstaltung findet statt am Freitag, dem 3. Juni 2016, um 11 Uhr in der Bertelsmann-Repräsentanz, Unter den Linden 1, in Berlin.
    Die Teilnahme ist kostenlos, eine Anmeldung jedoch erforderlich (zur Anmeldung).
    Sendetermine
    Live auf "Dokumente und Debatten", dem Dokumentationskanal von Deutschlandradio im Digitalradio und im Internet
    Deutschlandradio Kultur, "Religionen", Sonntag, 5. Juni, 14.05 Uhr – Übertragung der Diskussion mit einer thematischen Einführung von Thilo Guschas
    Radioprogramm Ö 1, Mittwoch, 8. Juni, 16.00 Uhr, "Praxis Religion und Gesellschaft" – Übertragung der Diskussion
    Diskutieren Sie mit!
    Ihre Meinung zum Thema und zu den wissenschaftlichen Untersuchungen interessiert uns. Beteiligen Sie sich an der Debatte auf der Facebook-Seite von Deutschlandradio Kultur bereits am Mittwoch, dem 1. Juni.
    Weitere Informationen
    zur Reihe "Miteinander leben – Perspektiven durch Einwanderung in Deutschland und Österreich" finden Sie unter www.deutschlandradio.de/miteinander. Hintergrund des Podiumsgesprächs sind zwei wissenschaftliche Untersuchungen, die von der Bertelsmann-Stiftung in Auftrag gegeben wurden. Die Untersuchungen sind ab dem 30. Mai auf den Online-Seiten der Bertelsmann-Stiftung zu finden. An dieser Stelle finden Sie Zusammenfassungen der beiden Studien:
    Julia Gerlach: Auf dem Weg zu einem Europäischen Islam – Oder ist dieser womöglich längst Realität? (Download)
    Der Titel kommt mit einer Selbstverständlichkeit daher – dabei ist die Frage nach dem Europäischen Islam heftig umstritten. Viele Muslime reagieren misstrauisch, wenn der Begriff verwendet wird und verstehen ihn als eine Art Forderungskatalog der europäischen Mehrheitsgesellschaft: Welche Schritte die Muslime unternehmen müssen, ihre Religion an die europäische Werte- und Gesellschaftsordnung anzupassen, um dann als Teil unserer Gesellschaft anerkannt zu werden. Natürlich schwingt hier die Angst vor Assimilation und dem damit verbundenen Identitätsverlust mit. Besonders kritisch wird der Begriff "Euro Islam" gesehen, der von Bassam Tibi geprägt wurde. Wird hier doch der Islam auf sein ethisches Konzept reduziert und die Scharia für überflüssig erklärt. Tarik Ramadan setzt dem ein Konzept des "Europäischen Islams" entgegen. Die Muslime sollten sich um Integration bemühen, ohne ihre Identität aufs Spiel zu setzen. Auch dieses Konzept ist umstritten, vor allem wegen der Person Tarik Ramadan. Um sich von diesen Konzepten abzugrenzen, meiden viele den Begriff und verwenden stattdessen "Islam europäischer Prägung", "zeitgenössischer Islam" oder "Islam in Europa". Andere lehnen solche Label insgesamt ab. Islam sei Islam und brauche keine Adjektive.
    Doch die Realität ist weiter als die Diskussion. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich in Deutschland eine Form des islamisch-religiösen Lebens herausgebildet, die als typisch europäisch bezeichnet werden kann. In dieser Studie wird daher der Begriff europäischer Islam verwendet, allerdings zunächst kleingeschrieben und rein deskriptiv: Im Gespräch mit zahlreichen Muslimen und in langen Interviews mit zwölf ausgewählten Personen bin ich im Frühjahr 2016 der Frage nachgegangen, was sich in den vergangenen 10 bis 15 Jahren im muslimischen Deutschland verändert hat. Es handelt sich um Intellektuelle, Aktivisten und Theologen, die sich in verschiedener Weise für die Beheimatung des Islams in Deutschland einsetzen.
    Der deskriptive Ansatz führt dazu, dass nicht nur die kritischen Intellektuellen vom Liberalislamischen Bund oder die kreativen jungen Aktivisten dazugerechnet werden: Auch die salafistische Bewegung fällt unter den Begriff europäischer Islam. Tatsächlich spielt die Auseinandersetzung mit den Radikalen und dem damit verbundenen verstärkten Rassismus gegen Muslime eine große Rolle auch für die Mehrheit der Muslime. Wie kann diese sehr destruktive Entwicklung bekämpft werden?
    Wenn man die Entwicklung in vier Stichworten formulieren soll, so sind neben der Auseinandersetzung mit Terror und Rassismus die Institutionalisierung des Islams und die Individualisierung der Glaubenspraxis festzuhalten. Mehr Muslime setzen ihren Verstand und ihre eigene Interpretation ein, satt Gelehrte nach dem Erlaubten und dem Verbotenen zu befragen. Insgesamt zeichnet sich der Islam durch eine große Vielfalt aus, und es entwickelt sich ein Diskurs zwischen verschiedenen Positionen. Wenn das nicht typisch europäisch ist? Hier kommt nun doch das normative Konzept wieder ins Spiel. Es wäre illusorisch, einen einzigen, von allen akzeptierten zeitgemäßen und an das Leben in Europa angepassten Islam zu erwarten. Wer sollte so etwas verordnen? Noch dazu in einer demokratischen, pluralistischen Gesellschaft? Es gibt vielmehr eine Vielzahl von Positionen. Mal ein wenig liberaler, mal konservativ, mal radikal, aber nie unwidersprochen. Es ist also nicht zu übersehen: Was hier entsteht, ist Europäischer Islam, großgeschrieben.
    Sarah Albrecht: Wie "islamisch" ist Europa? – Muslimische Perspektiven auf die Vereinbarkeit islamischer Normen mit dem Leben in westlichen Gesellschaften (Download)
    Was ist die Scharia und inwiefern hat sie Gültigkeit für Musliminnen und Muslime in Europa? Wie kompatibel sind islamische Normen mit den Werten und rechtlichen Grundlagen westlicher, sich als säkular und demokratisch definierender Gesellschaften? Und wie "islamisch" oder "islamkompatibel" ist Europa: Ist es – wie einige Rechtspopulisten und Islamisten behaupten – ein "Gebiet des Krieges", das von Musliminnen und Muslimen bekämpft und "islamisiert" werden muss? Oder ist es ein "Gebiet des Islams", da Europa islamische Werte womöglich besser verkörpert als selbsternannte "islamische Staaten"? Diese Untersuchung widmet sich den aktuellen innermuslimischen Diskussionen zu diesen und anderen Fragen rund um die Vereinbarkeit islamischer Normen mit dem Leben in mehrheitlich nichtmuslimischen Ländern.
    Anknüpfend an historische Debatten über das Leben unter nichtmuslimischer Herrschaft haben sich muslimische Religionsgelehrte und Intellektuelle seit den 1980er Jahren intensiv mit diesen Fragen auseinandergesetzt und ganz unterschiedliche Antworten entwickelt, die beispielhaft vorgestellt werden. Entgegen der Behauptungen rechtspopulistischer Meinungsmacherinnen und Meinungsmacher zeigt dieser Einblick in das breite Spektrum muslimischer Stimmen, dass die Mehrzahl der an diesem Diskurs beteiligten prominenten Gelehrten und Intellektuellen weder proklamiert, hierzulande "islamisches Recht" einzuführen, noch davon ausgeht, dass ein Leben gemäß islamischer Werte und Normen inkompatibel sei mit den rechtlichen und ethischen Rahmenbedingungen europäischer Staaten.
    Ganz im Gegenteil hat eine wachsende Zahl muslimischer Vertreter in den vergangenen Jahren zum Ausdruck gebracht, dass westliche Länder sogar "islamischer" seien als viele nicht-demokratisch regierte, mehrheitlich muslimische Staaten, da es Musliminnen und Muslimen in Europa und Nordamerika viel eher möglich sei, ihren Glauben zu praktizieren, in Sicherheit zu leben und islamische Werte zu verwirklichen.
    Deutlich wird dabei zum einen, dass sich innermuslimische Debatten keineswegs im sprichwörtlichen Elfenbeinturm religiöser Gelehrsamkeit abspielen, losgelöst von politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern dass sie diese auf vielfältige Art reflektieren. Zum anderen gibt der Aufsatz aber auch zu bedenken, dass es sich dabei um eine in hohem Maße normative Auseinandersetzung mit religiösen Fragen handelt, die bei Weitem nicht den Alltag und die religiöse Praxis aller Muslime in Deutschland bestimmt. Von äußerst geringer Relevanz ist diese Auseinandersetzung ohnehin für diejenigen, die zwar aus muslimischen Familien oder Ländern stammen, Glauben und Religiosität aber einen geringen oder womöglich gar keinen Stellenwert in ihrem Leben beimessen. Andere haben vielfach eigenständige, pragmatische Wege gefunden, ihren Glauben mit dem Leben inmitten einer mehrheitlich nichtmuslimischen Gesellschaft in Einklang zu bringen.