Utopie eines klassenübergreifenden Lebensstils

05.02.2013
Der Architekturkritiker Owen Hatherly hat einen Essay über die britische Band "Pulp" und die Industriestadt Sheffield geschrieben. Treffend vergleicht er den Architekturstil des Brutalismus mit der Musik der 80er-Jahre Britpopband. Im Ton polemisch, in der Analyse gründlich lotet er die Beziehung aus, die Sex, Großstadt und Klassenzugehörigkeit eingehen.
Als Mitte der 90er Pulps "Common People" im Radio rauf und runter spielte, war klar, dass hier auch der Text die Musik macht. "I wanna sleep with common people like you" – "Ich will mit gewöhnlichen Leuten wie Dir schlafen" –, das war schon ein Statement. Zumal es nicht der Sänger und Texter Jarvis Cocker war, der solches begehrte, sondern die stinkreiche griechische Kommilitonin von der Kunsthochschule. Cocker hielt ihr im Verlauf des Songs eine Gardinenpredigt über die ach so heiße Arbeiterklasse: "Du wirst nie kapieren, wie sich ein Leben anfühlt, das bedeutungslos und unkontrollierbar ist und vor dem es kein Entrinnen gibt", gefolgt von der Drohung: "Sie werden Dir die Eingeweide rausreißen, weil sie Touristen hassen".

Das Tolle an «Common People» war aber nicht nur die zynische Breitseite in Richtung sich selbstverwirklichender Sprösslinge wohlhabender Eltern, sondern ihre Kombination mit einem pompös delirierenden Gitarrenpop, der von einer orgiastischen Steigerung zur nächsten eilte. Beides zusammen inklusive des dandyhaft androgynen Auftretens von Jarvis Cocker dürfte genau jene Mittelklasse-Kids beeindruckt haben, denen Cockers Standpauke galt.

Mit Owen Hatherleys Essay «These glory days» (im Original «Uncommon») ist nun ein Buch auf Deutsch erschienen, das Verehrern das Werk der mittlerweile höchstens zu Nostalgiekonzerten auftretenden Band noch einmal mit einem intelligenten Close-Reading vor Augen führt. Hatherley, Jahrgang 1981, war als Teenager selber Pulp-Fan. Er erzählt das sehr schön in einer Schlüsselszene: wie ihm und seiner Freundin der Song «Sheffield: Sex City» als Offenbarung erschien, weil darin die Stadt als triebhaftes Wesen beschrieben wurde. Zudem ist Hatherley, und das macht seinen Essay erst richtig spannend, Architekturkritiker. Unter anderem hat er ein Buch über «Brutalismus» geschrieben, jene in den 60ern – übrigens auch in Pulps Heimatstadt Sheffield – praktizierte Bauweise mit Hilfe von viel Sichtbeton, minimalistischen Formen und geometrischen Strukturen, mit der oft die Utopie eines urbanen, klassenübergreifenden Lebensstil einherging.

Diese Formen und Strukturen findet Hatherley in Pulps Alben wieder. Im Ton polemisch, in der Analyse gründlich lotet er die Beziehung aus, die Sex, Großstadt und Klassenzugehörigkeit darin eingehen. Anders als die beiden anderen erfolgreichen Britpopbands der 90er Jahre, Blur und Oasis, griff die Formation nicht nur auf Retro-Elemente, sondern auch auf zeitgenössische Clubsounds wie Techno und Jungle zurück. Zudem hatte Pulp seit Anfang der 80er-Jahre im Windschatten des Thatcherismus mit Gelegenheitsjobs und Sozialhilfe überlebt, bevor Cocker und Konsorten dann doch noch ein Kunststudium in London absolvierten. Zwischen Arbeiter- und Mittelklasse stehend, behielten sie ein Gespür für feine und nicht so feine Unterschiede.

«Sheffield, City of the Future», lautete eine Slogan der Kommunalverwaltung in den 70ern. Mindestens einer der Pulp-Boys (ein -Girl gab es mit Candida Doyle übrigens auch) war davon überzeugt, dass ihm und Sheffield eine herrliche Science-Fiction Zukunft blühte. Diesem utopischen Potenzial, sowohl im Sozialen als auch im Künstlerischen, huldigt Owen Hatherley in «These Glory Days». Tatsächlich ist es derzeit rar gesät.

Besprochen von Eva Behrendt

Owen Hatherley: These Glory Days. Ein Essay über Pulp und Jarvis Cocker
Aus dem Englischen von Sylvia Prahl
Edition Tiamat, Berlin 2012
168 Seiten, 16 Euro
Mehr zum Thema