Utopie einer Friedensstadt

Das "himmlische Jerusalem" im märkischen Sand

Die Hallenkirche der Johannischen Kirche in Blankensee (Brandenburg)
Die Hallenkirche der Johannischen Kirche in Blankensee © Foto: Rainer Gerhardt
Von Stefanie Oswalt · 18.12.2016
Mitte der 1920er-Jahre hat der Sozialreformer Joseph Weißenberg die "Johannische Kirche" in Trebbin gegründet. Mehr als 60.000 Anhänger sammelte er in wenigen Jahren. Heute gibt es 3000 Johannische Christen. Ihr Glaube an die Utopie ihres Religionsstifters ist ungebrochen.
Rainer Gerhardt: "Man hat hier Land urbar gemacht, man hat gerodet und aufgebaut. Und diese Utopie wurde ja auch nach 60 Jahren, als die Friedensstadt dann wieder zurückgegeben wurde, weitergeführt."
Ulrike Gehde: "Vielleicht kann man noch ergänzen, dass Joseph Weißenberg ja auch geprägt war von den Eindrücken des Ersten Weltkriegs und dann gesagt hat: Hier soll nach den Jahren des Krieges ein Ort des Friedens entstehen."
Andreas Schmetzstorff: "Für mich ist das ein heiliger Ort. Er sieht aber doch auch hässlich aus. Man sieht, wie die Geschichte da drüber gegangen ist, die ehemalige Garnisonsstadt. Es ist grau, unaufgeräumte Brachflächen – also eigentlich alles andere als ein Ort, wo man sagen kann: Hier fühle ich mich wohl – und trotzdem ist es so."
Trebbin in Brandenburg. Die letzten Blätter werden vom Platz der großen, 1929 errichteten Hallenkirche gepustet. Etliche Marktbuden stehen bereits, Lichtergirlanden leuchten in der Abenddämmerung.
In der Kirche herrscht emsige Geschäftigkeit beim Aufbau des alljährlichen Weihnachtsmarktes. Mehr als 10.000 Gäste werden erwartet, darunter viele Johannische Christen aus dem ganzen Bundesgebiet. Um die 3000 Johannische Christen leben heute noch in der Bundesrepublik. Ein- bis zweimal im Jahr treffen sie sich in Trebbin, an jenem Ort, an dem ihr Religionsstifter Joseph Weißenberg in den 1920er-Jahren begann, seine Utopie einer Friedensstadt umzusetzen.

Wunderheiler, Maurer und Gastwirt

Weißenberg, 1855 in Schlesien geboren und früh verwaist, fand schon in jungen Jahren als Wunderheiler viele Anhänger. 1884 kommt er nach Berlin, arbeitet in vielen handwerklichen Berufen unter anderem als Maurer und Gastwirt. Nach einer Christusvision 1903 lebt Weißenberg konsequent nach Christi Geboten. Seine Mission: Er will den christlichen Glauben reformieren und die konfessionelle Spaltung überwinden, sagt sein Biograf Andreas Schmetzstorff.
"Die Stoßrichtung war die, dass das Wort Gottes ernstgenommen wird, dass es nicht bei den Sonntagsreden bleibt, sondern dass es eben auch im Alltag praktisch umgesetzt wird. Er hat wenig Verständnis für Menschen, die immer nur beten und in der Bibel lesen wollen. Das ist ihm gar nichts. Er sagt: Gebet und Arbeit gehört beides zusammen."
Nach den schrecklichen Erlebnissen des Ersten Weltkriegs strömen Weißenberg viele Menschen zu, die nach Spiritualität und neuen Lebensformen suchen. Mit Spenden seiner Anhänger kauft er kurz vor der Inflation in den Glauer Bergen bei Trebbin 1600 Morgen Land und beginnt mit dem Bau einer Friedensstadt. Bald schon nennen seine Anhänger das Projekt "Himmlisches Jerusalem", in Anlehnung an das 21. Kapitel der Johannesoffenbarung.
Zwischen 1920 und 1934 errichtet Weißenberg mit seinen Anhängern auf dem neu erworbenen Land eine große, moderne Siedlung. Mehrere Mehrfamilienhäuser, circa 45 Ein- und Zweifamilienhäuser, ein Altersheim, eine Schule, die große Hallenkirche in Blankensee, das Heilinstitut, eine Ausflugsgaststätte und ein Museum zur Kultur- und Religionsgeschichte. Es entstehen ein landwirtschaftlicher Betrieb, ein Wasserwerk und ein Transformatorenhaus, damit die Siedlung elektrifiziert ist.
1926 wird Weißenberg wegen anhaltender Differenzen mit der Kirchenleitung aus der evangelischen Kirche ausgeschlossen. Kurzerhand gründet er seine eigene, die "Evangelische Johannische Kirche". Die Gefahren des Nationalsozialismus, sagt Andreas Schmetzstorff, verkennt Weißenberg Anfang der 1930er-Jahre zunächst:
"Er sieht sehr große Gefahr vom Kommunismus aus kommend, weil der ja bewusst areligiös auch auftritt. Das macht ihn empfänglich für diese Heilsversprechen der Nationalsozialisten, die in der ersten Zeit gemacht werden."

Verbot der Kirche durch die Nazis

Doch schon 1934 stellt sich Weißenberg gegen die Nationalsozialisten und fordert Hitler in Briefen auf, die Glaubensfreiheit und den christlichen Glauben unangetastet zu lassen. Er möchte sich auch nicht vom jüdischen Alten Testament distanzieren. Im Januar 1935 wird die Kirche verboten, das gesamte Vermögen beschlagnahmt. Die Leibstandarte Adolf Hitler besetzt die Friedensstadt.
1941 stirbt Joseph Weißenberg nach wiederholten Verhaftungen im Alter von 85 Jahren. 1942 bis 1945 unterhält das Konzentrationslager Sachsenhausen auf dem Gelände ein Außenlager. Nach dem Krieg errichtet die Rote Armee dort eine Kaserne. Nur die Hallenkirche mit ihrer prächtigen Orgel gelangt schon 1946 wieder in den Besitz der erneut zugelassenen Johannischen Kirche.
1994 ziehen die Russen ab, die Kirche erhält das Gelände zurück. Seither bemüht sie sich, Joseph Weißenbergs Werk fortzusetzen: Beten und Arbeiten sollen hier verbunden, religiöse Brücken gebaut werden. Willkommen ist jeder, der in Frieden leben will.
Fünf Uhr am Nachmittag. Draußen ist es stockfinster und kalt, in dem ehemaligen Offizierskasino warm und heimelig. Festlich geschmückt strahlt der Tannenbaum. Etwa 60 Menschen versammeln sich hier täglich zum gemeinsamen Morgen- und Abendgebet.

Geborgenheit und Gemeinschaft

Besonders ältere Menschen genießen die Geborgenheit, sagt Esther Nörenberg. Sie leitet das Mehrgenerationenhaus in der Friedensstadt:
"Man wird von der Gemeinschaft getragen, mit guten Gedanken, mit Gebeten und man ist nicht allein. Wer natürlich nicht in die Gemeinschaft möchte, der muss ja auch nicht kommen. Es ist ja keine Zwangsveranstaltung, sondern es sind Angebote, die gemacht werden, die auch gut genutzt werden."
Inzwischen gibt es neben dem Mehrgenerationenhaus einen Kindergarten, ein Ärztehaus, eine Fotovoltaik-Anlage und einen Bioladen. Überall, sagt Meiko Röper, bemühe man sich, Joseph Weißenbergs Idee vom friedlichen und ganzheitlichen Leben umzusetzen. Er ist 25 Jahre alt und betreibt seit einem Jahr den Bioladen in der Friedensstadt.
"Hier arbeiten zu dürfen, ist klasse, ich bin ja auch schon seit der Geburt in der Kirche, die Gemeinschaft ist schön, der Ort wo auch Joseph Weißenberg gewandelt ist, hat so eine Ausstrahlung - und es ist spannend, hier zu arbeiten und zu probieren, den achtsamen Umgang mit Lebensmitteln an die Menschen zu bringen, diese natürliche Lebensweise wieder zu bringen."

Menschen eine Heimat geben

Künftig möchte sich die Kirche noch mehr in der Flüchtlingshilfe engagieren. Auch das im Sinne Weißenbergs, dem es wichtig war, Menschen Heimat zu geben und sie in ihrer Suche nach Gott zu einen. Für Ulrike Gehde und Rainer Gerhardt, beides Laienpriester der Johannischen Kirche, ist die Utopie ihres Kirchengründers aktueller denn je.
"Ich würde mir wünschen, dass die Friedensstadt so eine Willkommensstadt wird, wo eben Menschen verschiedener Kulturen und Altersgruppen und auch Gesundheitszustände und so weiter zusammen leben und arbeiten können, dass es religiös ein Mittelpunkt bleibt und ein gastlicher Ort. Also unsere Vision ist, dass Friedensstadt nicht nur auf unseren kleinen Ort hier zwischen Blankensee und Glau beschränkt ist, sondern dass es viele, viele Friedensstädte überall gibt, weil: Die werden gebraucht."
Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?
Ausschnitt aus "Paradies", dem Mittelportal des Triptychons "Der Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch (um 1450−1516)
"Paradies" von Hieronymus Bosch© Bild: Imago
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