Utopie auf der Bühne

Theater braucht Entschleunigung statt Events

Eine Mitarbeiterin des Theaters in Meißen (Sachsen) reinigt mit einem Staubsauger die Sitze im Zuschauersaal des Theaters.
Hofentlich hat wenigstens diese Mitarbeiterin des Theaters Meißen genügend Zeit für ihren Job: Theaterbetriebe haben heutzutage viel Stress. © picture alliance / Arno Burgi
Von Tobi Müller · 23.12.2016
Die Utopie für das Theater der Gegenwart wäre: Tief durchatmen, lesen, mit Leuten reden, Computer ausschalten, Spaziergänge machen, lange Vorbereitungen. Denn immer mehr Premieren bei weniger Zeit zum Nachdenken führen zu künstlerischer Unschärfe, meint Tobi Müller.
Das Sprechtheater gerät unter Spardruck, besonders in der Provinz. Und weil das deutsche Theater vom Staat, meistens von den Städten bezahlt wird, erinnert die Verteidigungsrethorik der Bühnen an die Sprache des öffentlichen Dienstes. Beeindruckend, was das Theater alles sein muss: eine zentrale Bühne der Demokratie, eine Stätte der Bildung, ein Begegnungshort der Kulturen. Und immer wieder liest man das große Wort in Spielplanüberschriften und Einleitungen von Programmbüchern: Utopie – gerne auch in der Mehrzahl, Utopien. Das Theater als Wunschraum, der den Geist vor dem Geld schützt.
Es ist nichts dagegen einzuwenden, wenn ein Staat eine Kunstform so großzügig unterstützt wie Deutschland seine Sprechtheater – im weltweiten Vergleich stimmt das immer noch, trotz der Sparbefehle, die vielen Häusern zu schaffen machen. Doch die Sprache der Theater erinnert häufig an Sonntagsreden. Denn: Das Theater ist nicht für alle da, weder künstlerisch auf der Bühne, noch sozial im Parkett. Es repräsentiert einen beschränkten, wenn auch wichtigen Teil der Gesellschaft, die deutschsprachige Mittelklasse mit Bildungshintergrund. Und das Theater ist auch kein Gegenmodell zum wild gewordenen Kapitalismus – dazu produziert es viel zu viel, rund das Doppelte wie noch vor ein paar Jahrzehnten.

Durchatmen und spazieren gehen

Das Theater entspricht bereits auf seltsame Weise jenem Ort "Utopia", den Thomas Morus 1516 in seinem gleichnamigen Dialogroman entwarf. Es gibt kein Privateigentum – genau, die Theaterhäuser gehören nicht Einzelnen, sondern der Allgemeinheit, selbst wenn das manche Künstler vergessen haben und von "unserem Laden" sprechen. Und in Utopia herrscht strenge Monogamie – als Metapher gilt das auch für das deutsche Gegenwartstheater, das Angst hat, Liaisons mit Künstlern einzugehen, die anders produzieren.
Die Utopie für das Theater der Gegenwart wäre: Zeit. Tief durchatmen. Lesen. Mit Leuten reden. Computer ausschalten. Spaziergänge machen. Langes Recherchieren, lange Vorbereitungen.
Barbara Burckhardt, Redakteurin bei der Fachzeitschrift "Theater Heute":
"Ja, ich würde mir mehr Konzentration wünschen, eine gewisse Entschleunigung wünschen, wünschen, nicht mit so vielen Schauspielern zu reden, die ihren Beruf wirklich sehr schwierig finden mittlerweile. Bessere Bezahlung, und ja, Konzentration ist vielleicht das eigentliche Wort. Ich würde mir weniger Ranschmeißerei wünschen, ich würde mir weniger Angst wünschen. Es ist, glaube ich, ein Angstsystem geworden in gewisser Weise."
Die Realität im Theaterbetrieb hört sich eher so an: Ja, du, also wir machen Strindberg, aber auch ein bisschen Heine, eventuell Novalis und noch ein paar Texte von meiner Facebook-Seite. Nein, eine dramaturgische Fassung vor Probenbeginn gibt es nicht.

Hohe Schlagzahl, halbleere Säle

Beschleunigte Kunst kann ganz toll sein. Probezeiten, in denen etwas Neues entsteht, anstatt nur vom Blatt das Bekannte zu spielen: befreiend, keine Frage. Aber der Zwang zur immer noch höheren Schlagzahl führt zu künstlerischer Unschärfe. Noch mehr Premieren, noch weniger Zeit zum Nachdenken. Theater sind Event-Agenturen geworden, die aber so reden, als seien sie die letzten Orte demokratischer Öffentlichkeit. Dabei war der Kernauftrag einmal: Kunst.
Barbara Burckhardt: "Man müsste sich wieder als Künstler begreifen und nicht nur als Dienstleister, die von ihrer Kulturpolitik anerkennende Worte bekommen, weil sie ihre Läden vollkriegen. Die sie meistens ja trotzdem nicht vollkriegen. Wenn man nicht nur in die Premiere geht, was Kritiker ja sehr häufig tun, sondern mal in die xte Vorstellung geht, sitzt man gar nicht so selten in halbleeren Zuschauersälen. Das muss man leider so sagen. Das Erfüllen dessen, was man glaubt, was dieses Publikum möchte, führt noch nicht mal zu den vollen Zuschauersälen."
Es braucht auch eine Kulturpolitik, die den Theatern den Rücken freihält. Mehr Zeit heißt auch: mehr Risiko. Zum Denken, zum Experiment. Aber irgendwann muss dann doch jemand auf den Kalender schauen. Auch da können wir von Thomas Morus lernen, wenn er die Figur Raphael sagen lässt: "Die meisten Leute halten viel zu lange an ihrem Besitz fest, bis sie zu alt sind und nicht mehr können. Und selbst dann lassen sie nur ungern und unschön los."
Das kommt dem Theaterfreund auch 500 Jahre später bekannt vor, wenn man an die eine oder andere zu lang geratene Intendanz denkt, wo die Zeit scheinbar stehen blieb.
Was ist aus den Utopien und Visionen von Thomas Morus geworden? Der Schwerpunkt "Zukunft denken. 500 Jahre 'Utopia'" in Deutschlandradio Kultur sucht nach Antworten vom 18. bis 27. Dezember. Die Übersicht der Themen und alle bereits gesendeten Beiträge gibt es hier zu lesen und zu hören: Utopien in Politik, Gesellschaft und Kunst − Welche anderen Welten sind möglich?
Ausschnitt aus "Paradies", dem Mittelportal des Triptychons "Der Garten der Lüste" von Hieronymus Bosch (um 1450−1516)
"Paradies" von Hieronymus Bosch© Bild: Imago
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