"Urteil ist ein Riesenschritt"

Niko Stumpfögger im Gespräch mit Anne Françoise Weber · 15.01.2011
Streiks in kirchlichen Einrichtungen sind grundsätzlich zulässig, hat das Landesarbeitsgericht Hamm entschieden. Niko Stumpfögger von der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hält das Urteil für ein "kleines Erdbeben in der Rechtsgeschichte".
Anne Françoise Weber: "Jede Religionsgemeinschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbstständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes." So heißt es im Grundgesetz, der Satz stammt schon aus der Weimarer Reichsverfassung. Bisher wurde dieser Satz sehr weitgehend ausgelegt. Auch bei der Entlohnung ihrer Mitarbeiter hielten sich die Kirchen nicht unbedingt an Tarifverträge. Vielmehr galt der sogenannte dritte Weg, bei dem Kirchen und Arbeitnehmervertreter die Konditionen in paritätisch besetzten Kommissionen aushandeln, ohne institutionelle Beteiligung der Gewerkschaften.

Die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di fordert dagegen Tarifverträge auch für die Kirche, und hat ihre Forderung schließlich 2009 mit Streikaufrufen in diakonischen Einrichtungen unterstrichen. Reaktion der westfälischen und der hannoverschen Landeskirche sowie mehrerer diakonischer Werke: eine Klage gegen die Gewerkschaft. Im März dann entschied das Arbeitsgericht Bielefeld, dass Streikaufrufe in diakonischen Einrichtungen nicht zulässig sind. Ver.di legte Berufung ein.

An diesem Donnerstag hat nun das Landesarbeitsgericht Hamm ein neues Urteil gefällt: Angesichts der Vielfalt der Beschäftigten könne nicht grundsätzlich ein Recht auf Streik verweigert werden, erklärte das Gericht. Diakonievertreter haben bereits angekündigt, in Revision zu gehen. Das Ganze hat eine ziemliche Brisanz, immerhin beschäftigen die beiden großen Kirchen und ihre sozialen Einrichtungen mehr als eine Million Menschen.

Ich habe vor der Sendung mit Niko Stumpfögger gesprochen, dem für Kirchen zuständigen Bereichsleiter bei der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di. Als Erstes habe ich ihn gefragt, ob dieses Urteil für ver.di einen Sieg auf der ganzen Linie bedeutet, oder ob es doch nur ein kleiner Schritt ist.

Niko Stumpfögger: Also dieses Urteil ist ein Riesenschritt, ein kleines Erdbeben in der Rechtsgeschichte, das ist aber noch nicht das Ende, also wir rechnen damit, dass die Gegenseite Revision einlegt und dass wir möglicherweise auch bis zum Bundesverfassungsgericht gehen. Aber es ist ein Riesenschritt für die Beschäftigten. Wir haben immer gesagt, Streikrecht ist ein Grundrecht, und deswegen ist der Tag vorgestern ein guter Tag für die Beschäftigten in der Diakonie gewesen.

Weber: Und was heißt das jetzt ganz konkret? Wird ver.di demnächst überall in der Diakonie zum Streik aufrufen?

Stumpfögger: Also das Urteil ist ja für Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen ergangen, in allen anderen Bereichen gibt es keine Urteile mit Streikverbot, aber die Bedeutung liegt darin, dass die Kirche davon ausgegangen ist, dass sie das ausweiten kann. Wir haben diesen Monat noch ein zweites Verfahren in Hamburg, wo die Diakonie das wieder versucht, uns das Streiken untersagen zu lassen, und statt dass sozusagen jetzt die Richtung Ausweitung des Streikverbots eingeschlagen werden kann, muss sich die Diakonie mit dem Gedanken befassen, dass es eingeschränkt wird.

Das Wichtige ist: Es ist das erste Verfahren überhaupt, das es in der bundesrepublikanischen Rechtsprechung dazu gibt, es gibt zwar 50 Jahre herrschende Meinung der Juristen, also Argumentationen, aber das ist eine Meinungsbildung am grünen Tisch. Es hat noch nie ein Verfahren dazu gegeben. Und das Besondere ist, dass bereits im ersten Verfahren jetzt doch so eine deutliche Klarstellung für das Streikrecht von diesem Landesarbeitsgericht gekommen ist.

Weber: Allerdings eben erst in der Berufung. Wie erklären Sie sich das denn, dass in der ersten Instanz ja doch genau in die andere Richtung noch entschieden wurde?

Stumpfögger: Ja, wir erklären uns das so: Wenn Sie 99,9 Prozent der herrschenden juristischen Meinung die kirchliche Auffassung stützt, dann ist es schon sehr viel verlangt von einem Arbeitsgericht der ersten Instanz, zu sagen, ich mache jetzt Rechtsgeschichte, ich schreibe komplett die herrschende Meinung um. Insofern war es für uns nicht ganz überraschend, dass das Arbeitsgericht Bielefeld da erst mal vorsichtig rangegangen ist, und, ich sage es mal in unseren Worten, einfach den herrschenden Kommentar abgeschrieben hat.

Weber: Sie sind aber auch optimistisch, dass in der Revision das noch mal zugunsten der Gewerkschaften ausfallen wird?

Stumpfögger: Ja, wir wissen gar nicht, was da kommt, aber wir haben jetzt über ein Jahr Zeit, wo die Beschäftigten in der Diakonie die Möglichkeit haben, überall dort, wo es Probleme gibt, tatsächlich mit den klassischen Mitteln – notfalls Streik da einzusetzen und Tarifverträge zu schließen – sich auch wehren können. Also ich denke zum Beispiel die Krankenhäuser, die evangelischen Krankenhäuser haben wie alle Krankenhäuser in Deutschland massive Probleme mit der Belastung der Beschäftigten. Der Gesundheitsminister hilft ihnen kein Stück. Ihr eigenes Management sagt ihnen, wir sind im Wettbewerb, wir können nicht anders. Und jetzt gibt es da die Möglichkeit, zu sagen, ja, wollen wir es nicht mit einem Tarifvertrag versuchen, über Belastungsbegrenzung?

Weber: Nun ist aber so ein Streikaufruf im sozialen Bereich ja doch eine besondere Sache. Haben Sie da keine Skrupel? Also die Kirche argumentiert, dass unter den Streiks immer Dritte zu leiden haben und dass es in der Diakonie eben besonders hilflose Menschen sind, in Altenpflegeheimen, in Krankenhäusern. Kann man das vertreten?

Stumpfögger: Patienten und Klienten haben unterm Streik – das will ich gar nicht in Abrede stellen – immer zu leiden. Aber wissen Sie, in einer Gewerkschaft, die in dem Bereich lange Erfahrungen mit Streiks hat - wir streiken beim Blutspendedienst, wir streiken in Unikliniken, in Krankenhäusern - und wir wissen, wie man es macht, dass Klienten und die Kranken darunter nicht leiden. Wir bieten ja Notdienste an, und im Übrigen: Unsere eigenen Mitglieder sind ja so verantwortlich ihrer Berufsaufgabe gegenüber, dass sie gar nicht zum Streik kommen, wenn wir ihn so anlegen würden, dass die Leute, die von ihnen abhängen, massiv geschädigt würden.

Weber: Optimistische Einschätzung. Nun ist der Streik aber auch ein Mittel im Arbeitskampf. Die andere Seite ist die Aussperrung. Man wird aber nicht davon ausgehen, dass die Kirchen anfangen, ihre Mitarbeiter in der Diakonie auszusperren. Ist das dann nicht ein ziemlich ungleiches Verhältnis?

Stumpfögger: Also es gibt ja im Streik für den Arbeitgeber nicht nur die Aussperrung. Überlegen Sie sich mal, jemand, der noch nie gestreikt hat und der Arbeitgeber sagt, überlegen Sie sich das gut, wenn Sie hier mitstreiken bei ver.di, dann kriegen Sie hier im Betrieb kein Bein mehr an die Erde – also berufliches Fortkommen, allein diese Hürde zu überwinden, erfordert schon sehr viel Mut. Daneben gibt es ja die ganzen Möglichkeiten, dann andere Beschäftigte möglicherweise zu Ersatzarbeiten zu holen, fremde Firmen einzusetzen, um Küchenarbeiten zu ersetzen und so weiter. Die Arbeitgeber haben wesentlich mehr Möglichkeiten als nur die Aussperrung.

Weber: Ein anderes Argument der Kirchen für ihre Sonderstellung ist, dass es sich um einen Dienst am Nächsten handelt und jetzt keine Gegenüberstellung von einem kapitalistischen Arbeitgeber und armen, ausgebeuteten Arbeitnehmer, sondern dass es um eine Dienstgemeinschaft mit gemeinsamen Werten geht. Und wenn das jetzt vielleicht abgeschafft wird langfristig, geht da nicht auch etwas verloren, das Besondere der Kirchen und eben ein ganz besonderer Einsatz von Menschen im Bereich der Diakonie?

Stumpfögger: Die größten Kratzer in der Dienstgemeinschaft, die stehen nicht bevor, sie liegen schon hinter uns, denn Teile der Arbeitgeber in der Diakonie und vor allem die großen Einrichtungen haben sich dafür entschlossen, auf den Wettbewerbsdruck und die Kürzung, die man im Sozialbereich gemacht hat, damit zu reagieren, dass sie sagen: Dann müssen wir eben uns aufstellen wie ganz normale Unternehmen anderswo auch.

Sie haben also zu all diesen Maßnahmen bereits gegriffen, Outsourcing, Leiharbeit, betriebliche Altersvorsorge kürzen, Löhne kappen. Das haben sie alles bereits gemacht, und sie haben sogar Urteile jetzt zum Beispiel gegen den Einsatz von Leiharbeit im eigenen Betrieb, Urteile des Kirchengerichtshofs gehabt, die genau das sagen: Das ist gegen die Dienstgemeinschaft, dürft ihr nicht machen.

Das Problem bei Kirchen ist, dass Urteile von Kirchengerichten nicht verbindlich sind, es gibt keine Sanktionen. Die Manager haben das zur Kenntnis genommen und haben massenhaft weiterhin Leiharbeit gegründet. Die Kratzer sind tief, und die Enttäuschungen von Beschäftigten, die das erlebt haben zum Thema Dienstgemeinschaft – da sind wir nicht diejenigen, die die Dienstgemeinschaft gefährden würden.

Weber: Die Tarifverträge sind, ja, ein Modell. Die Diakonie hat sich zum Teil ja davon verabschiedet und eigene Entlohnungsgruppen eingerichtet, die nicht immer negativer sind. Also Berufsanfänger bekommen in der Diakonie zum Teil mehr Geld als im Tarifvertrag vorgesehen. Ist das vielleicht doch nicht so schwarz-weiß zu sehen?

Stumpfögger: Das ist richtig, was Sie sagen. Das betrifft einen Teil höher qualifizierter Beschäftigte im Westen, die auf dem Arbeitsmarkt schwer zu bekommen sind. Die bekommen tatsächlich im ersten Jahr ihres Berufs mehr, und wenn sie vier Jahre dabei sind, haben sie ab dem vierten Jahr weniger. Das heißt, das, was sie am Anfang mehr haben, bezahlen sie im späteren Berufsverlauf damit, dass sie hinter das, was in der Branche sonst gilt, stark zurückfallen.

Also die Krankenschwester beispielsweise im Westen ist nach längerer Zeit 13 Prozent unterhalb dessen, was es in der Branche gibt. Und die niedriger qualifizierten Berufsgruppen, die leicht zu finden sind, die steigen gleich mit weniger Geld ein, das heißt, die Diakonie hat radikal – das belegt noch mal meine These –, radikal sich an Wettbewerbsgesichtspunkten ausgelegt. Die Gruppe, die man schwer kriegt, kriegt ein bisschen mehr, bezahlt es anschließend selber, und alle anderen kriegen schon von vornherein weniger.

Weber: Bei diesem Prozess waren die Kläger jetzt zwei evangelische Landeskirchen, mehrere diakonische Einrichtungen, das heißt, wir reden die ganze Zeit von der evangelischen Kirche. Was ist eigentlich mit der katholischen Kirche und deren Caritas? Geht die viel fairer mit ihren Angestellten um?

Stumpfögger: Ja, das ist tatsächlich so. Die Caritas hat diesen Schwenk, dass sie gezielt auf Wettbewerbsorientierung und Lohnsenkungsstrategien umschaltet, nicht generell mitgemacht. Sie hat im Kernbereich West immer bis heute nachvollzogen, was in der Branche gezahlt wird, das ist ein Grund, warum es dort weniger Konflikte gibt. Sie hat in Randbereichen Ähnliches gemacht, sie hat im Osten das Gleiche gemacht wie die Diakonie. Es gibt keine Branche in der Republik, die im Osten so weit noch zurückhängt wie kirchliche Beschäftigte. Das hängt damit zusammen, dass es da keine Gewerkschaften gibt. Und auch die Caritas hat dieses Outsourcing in den Servicebereichen mitgemacht.

Aber es ist noch nicht so weit, und die Konflikte bei der Caritas nehmen jetzt erst langsam zu, und es sind nicht nur Konflikte, die jetzt zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern entstehen, sondern es ist caritasinterne oder diakonieinterne Unterbietungswettbewerb entstanden dadurch. Das heißt, die Caritas und die Diakonie muss schon aus Wettbewerbsgründen, um gleiche Bedingungen zu schaffen, überlegen, wie sie das löst, ganz unabhängig davon, ob wir jetzt da auf der Matte stehen oder nicht.

Weber: Und wenn Sie jetzt eine Vision äußern dürften: Bis wann sollten die Tarifverträge bei Diakonie und Caritas überall gelten?

Stumpfögger: Das wird wahrscheinlich ein längerer Prozess. Ich würde mal sagen, wir sollten nicht nur die Frage, was machen Gewerkschaften und Kirchen in Sachen Tarifvertrag künftig miteinander – das wird jetzt eine Suchphase sein, die sehr interessant wird aus meiner Sicht, aus unserer Sicht wie gesagt auch positiv für die Beschäftigten. Ich glaube, wir sollten uns aber mit den Anbietern von Sozial- und Gesundheitsleistungen auch als Gewerkschaft überlegen: Was könnten wir tun, um die Rahmenbedingungen der Finanzierung dieser Leistungen zu verbessern?

Also allen voran: Die Altenpflege ist miserabel finanziert, es gibt ein massives Unterbietungsproblem, zwar zwischen Diakonie und Diakonie, aber noch massiver zwischen privaten und den frei gemeinnützigen Anbietern, sodass wir also da jede Menge Probleme hätten, die wir gemeinsam als Tarifparteien oder als Sozialpartner in dieser Branche zugunsten der Branche, zugunsten der Klientinnen und der Patientinnen und zugunsten der Beschäftigten lösen können.

Weber: Das Landesarbeitsgericht in Hamm hat am Donnerstag entschieden, dass Streiks in kirchlichen Einrichtungen grundsätzlich zulässig sind. Zu dem Urteil hörten Sie ein Gespräch mit Niko Stumpfögger, bei der Dienstleistungsgesellschaft ver.di verantwortlich für den Bereich der Kirchen.

Vielen Dank für das Gespräch!