Urbane Landwirtschaft

Das Gewächshaus auf dem Dach

07:00 Minuten
Aneinandergereihte Pflanzen in Pflanzentöpfen im urbanen ALTMARKTgarten Oberhausen.
So groß wie ein Fußballfeld: Das Gewächshaus auf den Dächern von Oberhausen. © Fraunhofer UMSICHT
Von Kai Rüsberg · 15.06.2021
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In Oberhausen kommen Gemüse und Obst direkt aus dem Zentrum. Auf den Dächern der Altstadt betreibt das Fraunhofer Umsicht-Institut Gewächshäuser. Urbane Landwirtschaft könnte bald eine Schlüsselfunktion bei der Nahrungsversorgung von Städten spielen.
Oberhausens Landwirtschaftszentrum liegt am Altmarkt mitten in der Innenstadt. Auf dem Dach des Jobcenters befinden sich vier lichtdurchflutete Gewächshäuser mit 1100 Quadratmetern Platz zum Obst- und Gemüseanbau. Eine Fläche so groß wie ein Bolzplatz.
"Wir haben jede Menge Erdbeeren zu ernten", erzählt Gärtnermeister Wolfgang Grüne. "Auch jede Menge Kräuter werden heute ausgeliefert, das wird bis in den Oktober weitergehen, und die ersten Salate können abgeholt werden."
Die Erdbeerpflanzen ranken aus Balkonkästen, die in Gestellen übereinander in Richtung Glasdach gestapelt sind. Trotz des kühlen Frühlings reiften die ersten Früchte schon im April. "Was uns hier wichtig ist: Dass es eine Snack-Größe ist, die ein gutes Aroma hat, die wirklich auch sehr lecker schmeckt. Weil es leider nicht die eierlegende Wollmilchsau gibt, die eine Riesenfrucht hat und natürlich auch hohe Erträge hat, aber auch ein super Aroma hat. Die hier sind bei der Fruchtgröße eher im mittleren Feld anzusiedeln, die aber trotzdem noch einen sehr guten Geschmack hat."

Erdbeeren direkt aus der Stadt, ohne langen Transport

Salat, Kräuter, Erdbeeren: Im Oberhausener Altmarktgarten wachsen hochwertige Produkte, bei denen die Frische eine besondere Rolle spielt. Bislang werden sie über Tausende Kilometer per Lkw zum Kunden transportiert. Das soll hier vermieden werden, so Agrarwissenschaftler Grüne. Denn ihren Kunden sei Regionalität wichtig. "Dass man auch sehen kann, okay, hier oben werden Erdbeeren produziert – oder die Erdbeeren kommen vom Altmarkt, mitten aus der Innenstadt – was erst einmal für Verwunderung sorgt – und die Kunden dann sehen: Hier wachsen Erdbeeren in der Innenstadt. Es ist möglichst, auch unter städtischen Bedingungen Erdbeeren zu produzieren."

Forschungsleiter Volkmar Keuter vom Fraunhofer Umsicht-Institut in Oberhausen will erforschen, wie in Zukunft der Anbau von Lebensmitteln mitten in der Stadt zur hochwertigen Versorgung mit Vitaminen und nährstoffreichen Produkten beitragen kann.
Jobcenter Oberhausen mit Gewächshaus auf dem Dach.
Oberste Etage: Obst- und Gemüseanbau. Das Dachgewächshaus befindet sich auf dem Jobcenter Oberhausen.© imago / Werner Otto
"Wir haben die einmalige Chance, hier in Oberhausen endlich ein Reallabor zu betreiben", erzählt er. Das eröffne auch die Möglichkeit, Forschung direkt mit dem Bürger zusammen durchzuführen. "Wir können Befragungen durchführen, wir können auch entsprechend Produkte bei dem Bürger mal ausprobieren."

Städte als Rohstofflieferanten

Nach Prognosen des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit leben 2050 weltweit bereits zwei Drittel der Menschen in den Städten. Wer sie künftig ausreichend mit Lebensmitteln versorgen will, muss sie auch als Rohstofflieferanten betrachten, fordert Sandra Schwindenhammer von der Universität Gießen. Sie leitet mit Keuter den Forschungsverbund Suskult, der nachhaltige Anbausysteme für Nahrungsmittel erforschen will und dabei die traditionelle Landwirtschaft neu denkt.
"Wenn wir uns Zukunftsgedanken machen, dann muss man vielleicht auch erst einmal genau diese kontraintuitiven Wege denken und überlegen: Kann eine Kläranlage in Zukunft auch was anderes sein, als ein reiner Entsorgungsbetrieb? Vielleicht können wir dazu kommen, dass wir Kläranlagen auch als Orte verstehen, in denen Nährstoffe vorhanden sind, die erschlossen werden können."
Abwasser wird damit vom Entsorgungsproblem zum wichtigen Lebensquell in den Städten. Gewonnen werden aus dem Abwasser: Phosphor, Stickstoff und Kalium. Phosphor ist eine begrenzte Ressource und die Herstellung von Stickstoffdünger ist sehr energieintensiv.

Abwasser als Flüssigdünger

In großen Becken treiben im Altmarktgarten in Oberhausen Plastikflöße mit faustdicken Löchern. Darin stecken die Pflanzen und schwimmen mit ihren Wurzeln in einer Nährstofflösung – die Wissenschaft nennt das hydropone Kultivierung. Das bedeutet: Pflanzen wachsen künftig völlig ohne Kontakt mit Erde. Dadurch lässt sich die Düngekonzentration jederzeit präzise kontrollieren und nachregeln. Und diese Nährstoffe werden nachhaltig aus den Abwässern der Konsumenten gewonnen.
Ein Kreislaufsystem, erklärt Schwindenhammer: "Dieser Flüssigdünger, den wir aus dem Suskultsystem holen – da wird es sicherlich Überschüsse geben." Der Flüssigdünger könnte daher auch in den ländlichen Raum gebracht werden. So erfolge eine Verknüpfung zwischen: "Was wird da an der Kläranlage eigentlich vor Ort gemacht und wie könnten zum Beispiel auch Bauern vor Ort produzieren und davon auch einen Nutzen haben."

Astronauten-Urin für Pflanzen

Was in Oberhausen in einem Reallabor für die Nachbarschaft ausprobiert wird, entwickelt das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) für extreme Lebensbedingungen weiter. In Bremen forscht Daniel Schubert daran, wie zum Beispiel eine Landemission im Weltraum über längere Zeit ohne Versorgung von der Erde überleben könnte.
Eines ihrer Forschungsthemen: Wie man aus menschlichem Urin eine Nährstofflösung herstellen kann. "Wir versuchen, da zu schauen, wie die Astronauten mit ihren Ausscheidungsstoffen quasi dazu beitragen, neue Nährstofflösung zu generieren, die wir dann wieder an die Pflanzen geben. Das machen wir in einer Extrem-Umgebung nämlich auf Mond und Mars. Und wir versuchen das zu transferieren, wie man so etwas vielleicht eventuell dann auch später mal in Großstädten machen könnte."

In dieser urbanen Landwirtschaft ist künftig der Wachstumsprozess detailliert messbar und alle wichtigen Parameter können präzise eingestellt werden. Dadurch kann fast alles gesteuert werden: vom Wachstumstempo, über die Pflanzenbeschaffenheit bis zum Geschmack der Produkte, so Schubert. "Wir können auch ein bisschen über die Natur hinausschießen", meint er. "Wir können zum Beispiel der Pflanze ein bisschen mehr Licht geben. Bei Salat zum Beispiel hat man schon Untersuchungen, dass man dem Salat 24 Stunden lang Licht geben kann." Dadurch verkürze sich der Produktionszyklus erheblich.
Möglich werden dadurch Erdbeeren im deutschen Winter oder Blattsalat trotz Trockenheit und brütender Hitze im Sommer. Und noch ein großes, weitgehend in der Öffentlichkeit unbeachtetes Problem könnte verschwinden. Der Verderb von Obst und Gemüse auf den langen Transportwegen.
Es gebe Untersuchung, dass vom Acker bis zum Endkonsumenten bis zu 30 Prozent der Nahrung verfaulten, weil die Transportwege teilweise zu lang sind, zu kompliziert, die Kühlketten nicht eingehalten werden. "Die Vision, die wir haben, dass quasi morgens um zehn Uhr der Salatkopf geerntet wird und nachmittags um zwölf oder ein Uhr schon auf dem Tisch ist." Und dadurch ergeben sich weitere Vorteile. Die Sortenvielfalt könnte wieder steigen, weil Sorten nicht mehr nach Robustheit ausgewählt werden, sondern nach Geschmack und Nährstoffangebot.
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