Unvorstellbare Trostlosigkeit

21.03.2008
Verlust, Schmerz und Trauer - das sind die großen Themen in Silvia Bovenschens neuem Roman "Verschwunden". Und die unvorstellbare Trostlosigkeit, die durch das Verlassenwerden entsteht. Dank des zuweilen ironischen, meist wohlwollend-distanzierten Erzähltons driftet das Buch jedoch nie ins Sentimentale oder Pathetische ab.
Verschwunden - etwas oder jemand ist verschwunden. Für immer fort. Plötzlich, unerwartet. Obgleich wir wissen, dass alles irgendwann aus unserem Leben verschwindet - und auch wir selbst aus dem Leben verschwinden -, rechnen wir nie damit. Verschwinden, das Verb, verbindet das Verschwindende noch mit dem Jetzt, mit der Gegenwart. Es impliziert eine Aktivität (oder die Illusion davon), die tröstlich ist. Wenn etwas verschwunden ist, so ist das unwiderruflich. Trostlos. Und niemals vorstellbar, bevor es so weit ist.

Silvia Bovenschens neues Buch "Verschwunden" widmet sich diesem Unvorstellbaren. Die renommierte Literaturwissenschaftlerin hat sich in ihren letzten Büchern immer mehr dem Essay angenähert, jenem buchstäblichen "Versuch", der alles Erdenkliche auf unterschiedliche Weise sprachlich auszuloten vermag. In ihrem letzten Buch "Älterwerden" wagte sie etwas Neues, indem sie erstmals aus der Ich-Perspektive schrieb. In ihrem jüngsten Buch nun überschreitet sie konsequent die Grenze zum Fiktionalen, ohne dem Essay untreu zu werden.

Die Hauptfigur Daniela Listmann, die Ähnlichkeiten mit der realen Autorin haben mag und eben doch nicht Bovenschen ist, sammelt Geschichten - Geschichten übers Verschwinden. Ihre Bitte um Geschichten stößt bei ihren Freunden auf unterschiedliche Reaktionen, aber am Ende erzählen alle, ob geschmeichelt, erfreut, genervt, nachdenklich oder ablehnend: Ein geliebtes Schmuckstück verschwindet, eine Erinnerung geht verloren, ein Laptop mit allen Texten darauf wird gestohlen, taucht wieder auf, verschwindet erneut. Menschen verschwinden, sei es durch Tod, durch Verlassen oder auf gänzlich unerklärliche Weise. Es verschwindet die Zuversicht: ins Leben, in die Liebe.

Manchmal verschwindet auch der Zweifel, und sei es der Zweifel, dass man eine Geschichte übers Verschwinden zu erzählen hätte. Die Geschichten und die erzählenden Figuren bewegen sich zwischen zurückhaltender Dezenz und Pathos, aber sie sind niemals sentimental oder larmoyant, sondern erhalten durch die Erzählstimme Daniela Listmanns eine zuweilen ironische, meist neutral-wohlwollende Distanziertheit.

Im 14. Jahrhundert konnte Boccaccio seinem "Decamerone", einem der großen Modelle der europäischen Literatur, auf das in "Verschwunden" kurz angespielt wird, einen - wenn auch brüchigen - Rahmen geben. "Verschwunden" fügt die Fragmente nicht zu einem kohärenten Ganzen, sondern setzt sie zu einem durchaus willkürlichen Kaleidoskop zusammen - eine sehr moderne, auch postmoderne Weise des Erzählens. Modern ist auch, dass immer wieder (kritische, kommentierende, abfällige, positive) Stimmen von Freunden oder Bekannten über das Projekt der Daniela Listmann laut werden. Das Erzählen selbst wird, mit anderen Worten, thematisiert und in Zweifel gezogen. Erzählen kann nichts und niemanden retten, kann keinen Sinn verleihen, sondern nur die Illusion von Sinn.

Der gesamte Text ist elegant geschrieben, in einer beweglichen, zuweilen fast altmodischen und dennoch zeitgemäßen und unverkennbar eigenen Diktion, die nur den Nachteil hat, dass die Figuren alle ähnlich sprechen. Aber auch diesen Einwand - wenn es denn einer ist - nimmt der Text selbst vorweg. . .

Am Ende eines Dreivierteljahres und am Ende der 160 Seiten verschwindet eine Freundin. Sie hat Daniela Listmanns Projekt mit wachsender Distanz verfolgt, sie hat ein Tagebuch über ihr eigenes geplantes Verschwinden aus der Welt verfasst, das sie Daniela Listmann nach ihrem Selbstmord vermacht. Niemand von allen Freunden hat diesen geplanten Tod kommen sehen. Damit werden die Unausweichlichkeit und Unbegreiflichkeit des Verschwindens und des Verschwundenseins spürbar. Dieser Tod ist die Klammer, die dann schließlich doch alle Geschichten zusammenhält und sie zugleich fokussiert - freilich auf jene unvorhersehbare Weise, die Leben und Tod ausmacht.

Rezensiert von Gertrud Lehnert

Silvia Bovenschen: Verschwunden
S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2008
186 Seiten, 17,90 Euro