Unvollendetes Gesamtkunstwerk

20.12.2011
Der russische Autor Daniil Charms (1905-42) ist als Vorreiter des absurden Theaters ein ewiger Geheimtipp geblieben. Band 3 und 4 der Werkausgabe rekonstruieren einen selbstironischen Autor, der Genre übergreifend an so etwas wie einem Gesamttext arbeitete.
Ganz im Gegensatz zum berühmt gewordenen Politikerspruch bestraft das Leben vor allem jene, die zu früh kommen. Daniil Charms war sehr sicher einer dieser Zu-Früh-Gekommenen. Und die Strafe, sein kläglicher Hungertod in einer Leningrader Gefängnispsychiatrie während der Belagerung der Stadt durch die Wehrmacht, ist an Härte wohl schwer zu überbieten. Aber das ist "nur" die biografische Seite der Angelegenheit. In künstlerischer Hinsicht besteht diese Strafe darin, ein ewiger Geheimtipp zu bleiben.

Den Ruhm, den es mit einem absurd-abstrakten Theater zu erringen gab, haben in jedem Fall andere Autoren eingestrichen. Charms gehört aber unbedingt in eine Reihe mit Autoren wie Samuel Beckett oder Eugène Ionesco, er ist deren beherzter Vorreiter gewesen. Man darf das mit dem Reiten beinahe wörtlich nehmen. Legendär geworden ist der Auftritt des Dichters auf einem Kleiderschrank, seine Texte rezitierend.

Aber die Nachwelt hat es nicht einfach mit diesen meist kurzen Theatertexten. Der Längste von ihnen, "Jelisaweta Bam", lässt sich noch relativ griffig interpretieren als eine Variation auf das Motiv einer unvermutet und offenbar grundlos zuschlagenden Macht, die da plötzlich vor der Tür steht und - wie bei Kafka - von einer ganz und gar nebulösen Schuld spricht. Aber selbst hier gibt es keine Auflösung in einem herkömmlichen Sinn, wie bei praktisch allen dieser sketchartigen Theatertexte springt die Handlung auf ein absurd-komisches Niveau, das assoziative Wahrnehmung und einen sehr speziellen Sinn für diese Art von Komik verlangt.

Daniil Charms hätte das natürlich zu inszenieren gewusst, alle Nachgeborenen benötigen Inspiration oder den Mut, in diesen Texten durch experimentelles Ausspielen einen (szenischen) Grund zu finden. Es stehen da weite Wege offen: Wenn etwa von "Farlüschen" die Rede ist und eine Anmerkung des Übersetzers erklärt, dies sei eine Wortschöpfung für "Gegenstände mit ungeklärter Funktion", kommt es darauf an, ob hinter dem Verstand ein assoziativer Funke zündet oder nicht.

Es ist kaum anders in den unter "Autobiografisches" zusammengefassten Texten. Eine klassische Autobiografie jedenfalls ergeben sie nicht, es handelt sich um eine aus Tage- und Notizbüchern gebildete Kompilation. Da finden sich Episoden voller selbstironischer Hybris - "Ich bin so wie ihr alle, nur besser." -, Maximen, die man programmatisch versteht - "Mich interessiert das Leben nur in seiner absurden Erscheinungsform." -, neben amourösen Verstrickungen und lebenswirklichen Bedrohungen. Vor einer Sitzung der Sektion für Kinderliteratur im Schriftstellerverband notiert Charms nüchtern: "Ich bin sicher, dass man mir Unterstützung verweigern und mich aus dem Verband rauswerfen wird."

Diese Werkausgabe leistet eines in hervorragender Weise: Sie rekonstruiert einen Daniil Charms, der an so etwas wie einem Gesamttext arbeitet. Genregrenzen sind fließend, der Schreibimpuls zielt immer auf höchste Intensität. Daniil Charms ist ein unvollendetes Gesamtkunstwerk.

Besprochen von Gregor Ziolkowski

Daniil Charms: Wir hauen die Natur entzwei. Theaterstücke
Aus dem Russischen von Alexander Nitzberg
344 Seiten, 24,95 Euro
Daniil Charms: Du siehst mich im Fenster. Autobiografisches, Briefe, Essays
Aus dem Russischen von Beate Rausch
252 Seiten, 24,95 Euro
Band 3 und Band 4 der Werkausgabe
Verlag Galiani Berlin, Berlin 2011
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