Unversöhnlicher Moralist

10.01.2007
Der französische Philosoph Vladimir Jankelevitch zählt in seinem Heimatland zu den ganz Großen seiner Zunft. In Deutschland blieb er nahezu unbekannt und das hat er auch so gewollt: Zeit seines Lebens verwahrte er sich gegen eine Übersetzung seiner Texte ins Deutsche. Er konnte und wollte den Deutschen die Verbrechen des Holocaust nicht verzeihen.
Vladimir Jankelevitch hat sich Zeit seines Lebens dagegen verwahrt, seine Texte ins Deutsche zu übersetzen. Denn er hat zwar viel geschrieben über das Verzeihen - als moralisches Gebot, als Lebenskunst, als Schule des Charakters - aber es gab zumindest eine Sache, die galt ihm als definitiv unverzeihlich: der Massenmord an sechs Millionen Juden.

Jankelevitch selbst war Jude, 1903 in Frankreich geboren, der Sohn russischer Einwanderer. Während der Nazizeit hat er in der Resistance gekämpft und ist auf wundersame Weise den Vernichtungslagern entgangen. Nach dem Krieg war er 25 Jahre Professor an der Sorbonne und in Frankreich ein bekannter Mann.

Jede Verbindung nach Deutschland allerdings - Jankelevitch war ein profunder Kenner der deutschen Kultur- hat er sich untersagt: kein Pardon dem "Volk der Mörder und Henker"! Jankelevitch blieb unversöhnt bis zu seinem Tod im Jahre 1985. Dass wir nichts von ihm wissen, hat er so gewollt.

Nun haben wir Jankelevitch doch noch zu lesen bekommen - 20 Jahre nach seinem Tod. Das ist Ralf Konersmann zu verdanken. Konersmann ist Philosoph, Professor an der Universität in Kiel und ein profunder Kenner der französischen Philosophie. Ihm ist es gelungen, Jankelevitchs Tochter Sophie - Erbin und Nachlassverwalterin - zu überzeugen, ein paar Texte ihres Vaters ins Deutsche übersetzen zu lassen.

Man fragt sich natürlich: Ist das nicht respektlos? Gerade Jankelevitch war ein Denker, der sich oft genug als "Anwalt der Toten" verstand. Und nun geht die eigene Tochter über den Willen ihres verstorbenen Vaters hinweg? Nach eingehender Lektüre bekommt man allerdings den Eindruck: Ddiese Übersetzung ist und bleibt eine gegen Jankelevitchs Willen, aber sie ist dennoch in seinem Sinn.

Warum? - Das Buch ist erstens ein "Denkzettel" für uns Deutsche. In seinem Zentrum steht ein Essay von Jankelevitch aus dem Jahre 1971. Es trägt den Titel "Verzeihen?" und hat in Frankreich damals eine Revolution des Denkens ausgelöst. Zu dieser Zeit gab es gerade eine Diskussion im Lande, ob man Kriegsverbrechen in Zukunft juristisch als "verjährt" behandeln soll. Jankelevitchs Aufsatz war der Auslöser, dass dieser Antrag beim französischen Parlament am Ende nicht durchgekommen ist.

Nachdem in Frankreich die Wellen in dieser Sache ziemlich hochgeschlagen waren, sind die Intellektuellen auch in Deutschland mutiger geworden: Die Verjährungsfristen für Kriegsverbrechen wurden verlängert, und 1979 hat der deutsche Bundestag dann endlich beschlossen: Für Mord als Kriegsverbrechen gibt es generell keine Verjährungsfrist.

Jankelevichs Texte sind also von historischem Interesse - aber deshalb keinesfalls "von gestern", im Gegenteil: sie wirken alle brandaktuell. Was dieser Mann uns Deutschen ins Stammbuch schreibt, das schmerzt, auch wenn sich in Sachen Aufarbeitung der NS-Geschichte bei uns inzwischen einiges getan hat, das 1971 noch nicht abzusehen war.

Jankelevitch besteht nämlich darauf: wer sich wie wir, der deutsche Bildungsbürger, so gern auf seine stolze Tradition beruft, und damit immer Goethe meint und Schiller und Luther, der kann sich nicht einfach von Auschwitz distanzieren: Die Erben der Deutschen Klassik sind auch die Erben des deutschen Nationalsozialismus, ob sie das wollen oder nicht. Diese Schuld kann den Deutschen keiner mehr nehmen, meint Jankelevitch - und findet sehr drastische Sätze:

"Verzeihung ist nicht für Schweine gemacht. Die Verzeihung ist in den Todeslagern gestorben."

Frei von Schuld ist lediglich, wer aktiv im Widerstand gekämpft hat. Alles Mitläufertum, alles Wegsehen im Falle einer solchen Barbarei ist Feigheit und Schuld. Den Tätern zu vergeben, wenn überhaupt, stünde allein den Opfern zu, aber die sind tot. Und mit aller Kraft zu verhindern, dass irgendein Nichtbetroffener sich aufschwingt, im Namen der Opfer den Tätern Absolution zu erteilen: Das betrachtet Jankelevitch als Pflicht der Treue gegenüber den Toten.

Wo ist Jankelevitchs Denken brandaktuell? Wenn man diesen Essay über das Verzeihen liest, kommt einem spontan der Fall Jacob von Metzler in den Sinn: das Ansinnen seines Mörders, jetzt eine Stiftung zu gründen für die Opfer von Gewaltverbrechen und sich - zusammen mit einem geschäftigen Anwalt - zu sonnen im medialen Rampenlicht. Ich glaube, da hätte Jankelevitch durchaus die passenden Worte gefunden. Ungefähr dieselben, die er fand angesichts der deutschen Absicht, Entschädigungen zu zahlen für Juden-Morde. Jankelevitch schreibt:

"Bittet die Opfer doch selbst um Verzeihung! Wir jedenfalls wollen Euer Geld nicht haben, es versetzt uns in Schrecken, es ist eine Zumutung, uns überhaupt welches anzubieten. Betet, wenn ihr beten könnt - und vor allem: schweigt!"

Obwohl wir schon viel gelesen haben über Auschwitz: Dieser Essay über das Verzeihen ist ein selten eindringlicher Text, der erfüllt einen mit Scham, tatsächlich. Und mit tiefem Respekt vor einem Mann, der im Denken offensichtlich dasselbe war wie im Leben: ein rigoroser Moralist.

Ein kostbares Buch. Jeder Text eröffnet einem neue Horizonte, Jankelevitch schreibt nämlich nicht nur über das Verzeihen, sondern auch über andere moralphilosophische Schlüsselthemen, über das Lügen beispielsweise und über das Aufrichtigsein, über die Symptome einer dekadenten Lebensweise... Alles brillant formuliert und uns dargebracht in einer selten guten Übersetzung. Jankelevitch ist eine Entdeckung, seiner Tochter sei Dank.

Rezensiert von Susanne Mack

Vladimir Jankélévitch: Das Verzeihen. Essays zur Moral und Kulturphilosophie
Herausgegeben von Ralf Konersmann. Aus dem Französischen von Claudia Brede-Konersmann
Suhrkamp Verlag 2004
292 Seiten, 11,00 Euro