Unterstützung für Flüchtlinge

Der lange Weg zur Vormundschaft

Bereits mehrere Charterflüge mit abgelehnten Asylbewerbern gingen zurück nach Afghanistan.
Bereits mehrere Charterflüge mit abgelehnten Asylbewerbern gingen zurück nach Afghanistan. © picture-alliance / dpa / Sebastian Kahnert
Von Axel Schröder · 03.01.2017
Eine Hamburger Familie kämpft für den 17-jährigen Milat: Er ist aus Kabul vor der Bedrohung durch die Taliban geflüchtet. Und er will in Deutschland bleiben. Doch ihm droht die Abschiebung.
Milat und Fides Kreft gehen voran, hinter den beiden läuft Pega, Dolmetscherin und Flüchtlingsaktivistin. Die drei durchqueren die langen Flure im Hamburger Ziviljustizgebäude. Sie sind aufgeregt: Fides aus Hamburg will für Milat aus einem kleinen Dorf bei Kabul die Vormundschaft übernehmen.
- "Und Milat? Bist Du ein bisschen aufgeregt? Are you a little bit excited?"
- "Ja, klar! Ja, natürlich bin excited."
- "Und Du?"
- "Ich bin auch aufgeregt."
- "Warum?"
- "Weiß ich auch nicht… "
- "Ich hab keine Ahnung, was passiert. Ob wir Fragen gestellt bekommen. Irgendwas erzählen müssen. Wovon das abhängt."
Vor dem Saal setzen sich die drei. Sie warten zusammen mit einem Jugendamtsmitarbeiter auf den Richter. Im Januar haben sich Fides und Milat kennengelernt. Sie half mit in einem Erste-Hilfe-Container auf dem Hamburger Bahnhofsvorplatz. Er wollte eigentlich weiter nach Schweden, suchte einen Schlafplatz für ein, zwei Nächte. Und fand ihn bei Fides, ihrem Mann und ihren drei kleinen Jungs in einer Mietwohnung in Hamburg-Eimsbüttel. Schnell war klar: Alle wollen, dass Milat bleibt.
Die Tür zum Verhandlungssaal geht auf, der Richter bittet herein. Auch den Vertreter des Jugendamts. Tonaufnahmen sind nicht erlaubt.

Eine Entscheidung? - Vertagt!

Erst wird der Dolmetscher vereidigt, dann stellt Richter Gert Palmberger seine Fragen: nach Namen, Geburtsdaten, der Anschrift. Wo haben sie sich kennengelernt? Wie verständigen sie sich, wie ist die Wohnsituation, die finanzielle Lage? Nach zehn Minuten scheint alles überstanden. Aber dann äußert der Jugendamtsmitarbeiter Zweifel an Milats Alter: Denn als er in Hamburg ankam, wurde er in der völlig überfüllten Erstaufnahme für minderjährige Flüchtlinge auf über achtzehn geschätzt und wieder weggeschickt. Dagegen hätte er, der gerade sechs Monate Flucht hinter sich hatte, Widerspruch einlegen können. Hat er aber nicht. Offiziell gilt er jetzt als volljährig und könnte abgeschoben werden. Mit 17 wäre davor geschützt. Auf Antrag des Jugendamts ordnet der Richter eine rechtsmedizinische Alterskontrolle an. Bis dahin kann er der Vormundschaft nicht zustimmen und vertagt die Entscheidung. Milat, Fides und Pega sind enttäuscht.
"Sogar der Richter hätte ihn einstufen können! Warum kann das irgendein Sozialpädagoge? Und wieso kann nicht der Richter sagen, wie alt er ist? Wieso kann das ein Sozialpädagoge?"
Tatsächlich kann ein Richter einem Antrag auf Altersüberprüfung nur dann widersprechen, wenn es offensichtlich wäre, dass Milat noch keine achtzehn ist. Pega, die Flüchtlings-Aktivistin, findet die Entscheidung trotzdem fatal:
"Jetzt eine medizinische Untersuchung machen zu lassen, ist nicht richtig! (…) Ein Rechtsmediziner ist auch nur ein Mensch und der soll sagen, wie alt dieser Junge ist... Und der muss sich komplett entblößen! Die können ja bis zu seinem Schamhaar überprüfen, ob er wirklich minderjährig ist oder nicht."

Bis auf die Unterhose ausziehen

Milat selbst zuckt die Schultern. Was genau ihn erwartet, weiß er nicht: Drei Wochen vergehen bis zum Termin im Rechtsmedizinischen Institut des Hamburger Uni-Klinikums. Pega, Fides und Milat müssen eine Viertelstunde warten, dann werden sie ins Untersuchungszimmer gebeten. Keine zwanzig Minuten dauert die Alterskontrolle.
- "Milat, wie war's?"
- "Gut. 17! Ich habe meine Klamotten ausgezogen und die haben einfach so gecheckt, 15 Minuten und von meinen Zähnen ein X-Ray gemacht..."
- "Er hat gesagt, er ist 17. Er könnte auch älter sein. Anhand der Zähne. Er hat aber auch gesagt, dass die Zähne in einem Jahr unverändert aussehen würden. Das heißt, weil es ein Grenzfall ist - wenn man ihn als 18 einstuft, kann er auch jünger sein - weil Milat ein Grenzfall ist, ist er jetzt sozusagen 17. Das ist dieses: wir sprechen im Zweifel für das jüngere Alter."
Bis auf die Unterhose musste sich Milat ausziehen. Gestört hat ihn das nicht. Auf die Untersuchung der Genitalien verzichten die Rechtsmediziner seit rund einem Jahr. Meistens können sie schon anhand von Röntgenaufnehmen der Zähne und Handwurzelknochen feststellen, ob die jungen Menschen schon volljährig sind oder nicht.
Vier Wochen nach der Untersuchung kommt der Brief des Gerichts: Fides darf die Vormundschaft für Milat übernehmen. Und Milat ist vor einer Abschiebung nach Afghanistan geschützt. Jetzt darf er auch zur Schule gehen.
"So geht es weiter! Langsam, langsam!"
Langsam kommt er an in Deutschland und verliert die Angst, dass er zurück muss nach Afghanistan.
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