Unterernährte Alte

Hungern im Pflegeheim

Eine Bewohnerin der Seniorenwohnanlage Ludwigstift isst eine Suppe
Weil sie weniger essen, brauchen Senioren kalorienstarke Mahlzeiten. © picture alliance / dpa / Marijan Murat
Von Udo Pollmer · 06.03.2015
Arme hungrige Alte. Rund ein Drittel der Bewohner in Altenheimen gelten als unterernährt. Für Lebensmittelchemiker Udo Pollmer ein Skandal. Er sieht die Betreiber in der Pflicht, statt teurer Therapien ordentlich Fleisch auf den Tisch zu bringen.
Bei dieser Pressemeldung der Gesellschaft für Gastroenterologie, Verdauungs- und Stoffwechsel-krankheiten stockt einem beinahe der Atem: Bis zu 60 Prozent der Menschen in Altersheimen, Pflegeheimen und Krankenhäusern sollen mangel- oder unterernährt sein. Und was würden Sie dagegen tun? Klar doch, das Gleiche, was man mit großer öffentlichen Teilnahme bei Missernten, Naturkatastrophen und Hungersnöten in Afrika macht: Man gibt den Opfern etwas Nahrhaftes zu essen, am besten das, was sie am liebsten mögen. So kommen sie schnell zu Kräften. Überall auf der Welt wirken ein guter Koch und aufmerksames Personal wahre Wunder.
Pustekuchen! Ärzte und Ernährungsberaterinnen sehen das ganz anders: Denn wenn's ums Essen geht, braucht es statt guter Köchinnen gut bezahlte Experten, damit den Patienten statt einer appetitli-chen Mahlzeit eine "Ernährungstherapie" serviert werden kann. Angesichts der Kalorienphobie unter den einschlägigen Berufsgruppen müssen Pflegebedürftige und Greise mit dem Schlimmsten rech-nen: Gefordert wird von der gastroenterologischen Fachgesellschaft ausdrücklich viel Gemüse, das gewöhnlich kalorienarm ist, zusammen mit reichlich Vollkorn, - vermutlich damit klapperdürre Senioren zu ihrem Hunger auch noch Bauchschmerzen kriegen. Da können sie sich gleich von ihrem beratenden Gastroenterologen verarzten lassen.
Alte Menschen benötigen ausreichend Kalorien
Die Klage über unterernährte Senioren ist so neu nicht. Im Jahr 2012 hatte bereits das Europäische Informationszentrum für Lebensmittel (eufic) Alarm geschlagen: Unterernährung koste die Gesellschaft bereits doppelt so viele Milliarden, wie die sogenannte Epidemie des Übergewichts. Ich zitiere: "Schätzungen zufolge besteht in Europa bei 33 Millionen Menschen das Risiko einer Mangelernährung." Inzwischen dürften es ein paar mehr sein – denn die Menschen werden älter. Übrigens: Die Magersüchtigen fehlen bei dieser Berechnung noch. Es ging der Brüsseler Institution nur um jene, die unfreiwillig zu verhungern drohen – vor allem um Alte und Pflegebedürftige.
Unterernährte Patienten und Senioren haben ein erhöhtes Risiko für Infektionen und Stürze, die wie-derum Krankenhausaufenthalte zur Folge haben. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen Verschlechterung des Ernährungszustandes und funktionellen Defiziten, wie dem Verlust der Fähigkeit zur selbstständigen Versorgung. Alte Menschen benötigen ausreichend Kalorien, weil häufig nur noch kleine Portionen gegessen werden können. Da wirken gerade die verpönte Sahne sowie Butter wahre Wunder. Tierisches Eiweiß – in Form von Hackfleisch, Eiern oder Frischkäse – unterstützt die Rege-neration und hält bei Kräften.
Warum wird bei Kroketten und Hackfleischbällchen gespart?
Wenn in Seniorenheimen für ein kleines Appartement pro Monat tausende von Euro abgedrückt wer-den müssen, ist es unverständlich, warum vielerorts bei den Portionen an Kraftbrühe, Kroketten und Hackfleischbällchen gespart wird. Und es bleibt unerfindlich, warum in vielen Kliniken, Pflege- und Altersheimen keine Zeit bleibt, Untergewicht zu erkennen und zu vermeiden. Warum merkt niemand, dass den Patienten oftmals der Appetit vergeht, sobald sie ihr kalorienarmes Essen erhalten? Sieht beim Füttern etwa niemand, dass die Patientin bald vom Fleisch fallen wird? Vielfach ist der Verwal-tungsleiter gehalten, seine Gäste mit einem Betrag, der für drei Schälchen Katzenfutter aus dem Su-permarkt abgedrückt werden muss, einen ganzen Tag lang zu verpflegen. Für völlig sinnlose aber sündteure Therapien mangelt es seltsamerweise nicht an Geld.
Die beschämende Ernährungssituation in manch einem Heim und Krankenhaus ist ein Skandal. Allein der Umstand, dass bei jenen Alten, die auf sich allein gestellt sind, Probleme mit Untergewicht deutlich seltener sein sollen, unterstreicht, dass die Missstände alles andere als gottgegeben sind. Es ist schon komisch: Dort wo Mediziner und Ernährungsberaterinnen keine Ratschläge austeilen können, bleiben die Menschen eher bei Kräften. Vielleicht wären gescheite Köchinnen doch die besseren Therapeuten. Mahlzeit!
Literatur
DGVS: Gefährlicher Gewichtsverlust bei Senioren: Mangelernährung im Alter frühzeitig erkennen und behandeln. Pressemeldung vom 11. 2. 2015
Seitz H: Mangelernährung kostet 13 Milliarden Euro. Hochrhein-Zeitung 9.3.2009
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Eufic: Es ist an der Zeit, Mangelernährung in Europa anzuerkennen. Food Today 2012; Ausgabe 3
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