Unstillbare Lebenswut

11.01.2013
In den Einsamkeitshöllen dieses Genies fand sich Olof Lagercrantz gut zurecht: Dem langjährigen Chefredakteur der Tageszeitung "Dagens Nyheter" gelang es, die intellektuelle Unrast und ästhetische Widerständigkeit von August Strindberg als ein Gesamtkunstwerk zu skizzieren. Die kleine Studie von 1980 gibt es jetzt auf Deutsch.
Der englische Schriftsteller Samuel Butler soll einmal die Frage gestellt haben, wo eigentlich ein "Bewußtsein für das wahre Leben großer Dichter" entsteht: "in ihnen oder in uns?"

Olof Lagercrantz (1911-2002), der 1979 eine Biografie über den Dramatiker und Romancier August Strindberg vorlegte, spitzt diese Frage zu, indem er antwortet, dass Strindbergs Zeitgenossen noch nicht einmal das "Exemplarische seines Werks" erkannt hätten.

Der Lyriker Lagercrantz, der viele Jahre als Chefredakteur von "Dagens Nyheter" die Gesprächskultur des Landes kritisch beeinflusst hat, entfachte mit seiner Biografie eine hitzige Debatte in Schweden, in der es auch darum ging, wie sich ein Biograf dem fremden Leben und literarischem Werk überhaupt nähern sollte. Sein Strindberg-Buch wurde als "Schurkenstreich" und "Diebesgut" bezeichnet. Da Lagercrantz auf Quellenangaben verzichtet, sei es unwissenschaftlich und lediglich "das Porträt eines Dichters von einem Dichter".

Auch deshalb verfasste Lagercrantz 1980 eine kleine Abhandlung mit dem Titel "Strindberg und ich", in der er über Irrwege und Fehldeutungen spricht, die während der intensiven Beschäftigung mit einem Leben und Werk passieren können. So hatte er Strindberg anlässlich seines 100. Geburtstages in einem Gedicht als "Märtyrer des Auges" und "Tagelöhner seiner Nerven" bezeichnet, um die Enge seiner Welt zu beschreiben. Jahre später muss Lagercrantz erkennen, dass darin gerade seine Größe und Singularität bestehen.

Lagercrantz polemisiert in "Strindberg und ich" also auch in eigener Sache. Er zitiert aus Strindbergs berühmten "Blaubuch", wo der Lehrer seinen Zögling namens Strindberg darin unterweist, dass er als Schriftsteller unbedingt das Recht habe, "Dichterpersönlichkeiten zu erdichten und in jeder Phase die Sprache dessen zu sprechen, den du darstellst".

Lagercrantz entwickelt brillante Denkbilder, die von poetischer Schönheit und analytischer Schärfe sind. Mitunter nur vier Zeilen lang, geht er in ihnen behutsam und anhand zahlreicher Exkurse in die Weltliteratur den Einsamkeitshöllen und abgrundtiefen Ängsten eines großen Genies auf den Grund, dessen Leidenschaften von riskanter Unbedingtheit sind.

Die Übersetzerin Renate Bleibtreu – bekannt für ihr feines Gespür, literarische Kostbarkeiten zu bergen – hat mit "Strindberg und ich" einen Text ins Deutsche übersetzt, mit dem sie nicht nur Strindberg-Kennern ein Geschenk bereitet. Sie entdeckt in Lagercrantz’ respektvollen Denkbildern eine moderne Choreographie, die im Wort "Hellhörigkeit" ihren Solarplexus hat. Denn Lagercrantz ist es gelungen, die intellektuelle Unrast Strindbergs, seine ästhetische Widerständigkeit sowie unstillbare Lebenswut als ein Gesamtkunstwerk zu skizzieren, das seinem Schöpfer bedingungslos alles abverlangt hat.

Besprochen von Carola Wiemers

Olof Lagercrantz: Strindberg und ich
Aus dem Schwedischen von Renate Bleibtreu
Berenberg Verlag, Berlin 2012
96 Seiten, 20 Euro
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