Unsichere Erinnerungen

02.12.2009
Im Erzählungsband "Ich kann jeder sagen" des österreichischen Schriftstellers Robert Menasse treten 14 Ich-Erzähler an. Sie berichten davon, wie private Biografien auf die große Geschichte treffen wie auf den Mord an Kennedy oder auf den Mauerfall.
Bei manchen Menschen ist es eine Unverschämtheit, wenn sie Ich sagen, verlautbarte Theodor W. Adorno einst kurz, harsch und bündig. Man ist, war seine Ahnung, dermaßen verwechselbar geworden, dass die Behauptung, ein unverwechselbares Ich zu haben, in Wahrheit Hochstapelei ist.

Das war zu Zeiten, als man noch an die distinktionsbildende Kraft der Selbstreflexion glaubte. Dagegen ist Robert Menasses Titel geradezu menschenfreundlich, zumindest scheint es so. Darunter treten 14 Ich-Erzähler an, die davon berichten, wie private Biografien auf die große Geschichte treffen. Allesamt gehören sie der gleichen Generation an, und wie ihr Autor entstammen sie dem ehemals linken, akademisch-gebildeten Milieu. Sie erinnern sich an historische Ereignisse, die sie besonders geprägt haben oder an Momente ihres Lebens, die in spezifischer Weise mit den allgemeinen Zeitläuften verflochten sind: der Mord an Kennedy, der Putsch in Chile, die Palmers-Entführung in Wien oder der Mauerfall. Geschichte schlägt in diese Lebensläufe ein mit Donnerhall, manchmal bloß als fernes Echo oder auch nur als Fernsehfilm, als Titel eines Buches.

Das Leitmotiv dieser Generation heißt Freiheit und Selbstbestimmung, aber, so die Botschaft des Buches, die Zeitumstände ändern sich manchmal schneller als die eigenen Ansprüche, sodass man mit dem Fortgang nicht immer Schritt zu halten vermag. Wie schon in seinen vorangegangenen Romanen ist die missglückte Liebe eines von Menasses Themen, das prekäre Verhältnis zwischen Vater und Sohn, aber auch Philosophie und Politik.
"Eigentümlicherweise", so heißt es einmal, "war mein erster Gedanke, alle AutoBiografien in meiner Buchhandlung zu entfernen. Ich musste meinen Laden säubern. Alles Lüge! Ich konnte mich nicht einmal an einen dramatischen Vorfall erinnern, der kurze Zeit zurücklag, wie sollte es da möglich sein, sich an sein ganzes Leben zu erinnern? Lügen!"

Ob ein Geschäftsreisender von Weimar aus, wo er das KZ-Buchenwald besucht, um "die Zeit totzuschlagen", nach Dresden fährt und sich dort einen Fernsehfilm über das britische Bombardement ansieht, ob ein Buchhändler davon erzählt, wie er die einzelnen Bände seiner Marx-Engels-Gesamtausgabe aus den Mülltonnen befreundeter Wohngemeinschaften geborgen hat – allen gemeinsam ist die tastende Unsicherheit darüber, wie Erinnerung sich zusammensetzt und die Einsicht, dass alles Erinnern lückenhaft ist, weil sich jede vermeintliche Gewissheit als trügerisch erweist.

Wie es keinen planvollen Gang der Geschichte gibt, so erzählt Menasse auch nicht stramm chronologisch, sondern in assoziierenden, scheinbar stets abschweifenden Bewegungen. Das geht zwar nicht immer ohne Sentimentalität ab, im Grundton aber sind diese Erzählungen von bestechender Lakonie: Sie pendeln zwischen rabenschwarzer Komik, sinnreichen Anekdoten, kalauern auch mal pointenfroh drauflos und in ihren besten Fällen, wie im "Ende des Hungerwinters", wo eine jüdische Familie im Affenkäfig des Amsterdamer Zoos überlebt, entpuppen sie sich als bitterböse Farce. Auch wenn nicht alle Erzählungen nahtlos auf die Passform vom "Ende der Nachkriegsordnung" gebracht wurden, wie es etwas pompös im Untertitel heißt, so entwerfen sie doch das erstaunlich vielschichtige Panorama einer ganzen Generation. Ja, mehr noch: es ist eine Art Dekamerone der Neuzeit, das hintersinnig-abgründig zeigt, dass Schicksalswenden und Lebensbrüche nicht unbedingt ein Scheitern bedeuten müssen.

Besprochen von Edelgard Abenstein

Robert Menasse, Ich kann jeder sagen. Erzählungen vom Ende der Nachkriegsordnung
Suhrkamp Verlag, Frankfurt/Main 2009, 188 Seiten, 17,80 EUR
Der Schriftsteller Robert Menasse
Der Schriftsteller Robert Menasse© AP Archiv