Universitäre Sammlungen (9)

Von Astrologen bis Zeugen Jehovas

Zeugen Jehovas in München
Zeugen Jehovas in München © dpa / picture alliance / Matthias Balk
Von Nadine Lindner · 28.07.2015
Die Sammlung "Religiöser und weltanschaulicher Pluralismus in Deutschland" an der Universität Leipzig kümmert sich um das Schriftgut von Sekten, Verbänden und "Psychogruppen" abseits der anerkannten Religionsgemeinschaften.
Das religionswissenschaftliche Institut ist in einem der schönsten Leipziger Gründerzeithäuser in der Schillerstraße am Rand der Innenstadt untergebracht. Schon das Treppenhaus zeugt von alter Pracht. Doch lange währt die Freude nicht, denn Professor Hubert Seiwert schnappt sich einen Schlüsselbund und macht sich auf den Weg in den Keller.
Die Dokumentationsstelle für religiösen und weltanschaulichen Pluralismus kommt äußerlich eher schlicht daher. Es geht stattdessen um die Inhalte:
"Wir haben als Sammelspektrum als allgemeine Definition die Pluralität der weltanschaulichen Gruppen, die in Deutschland und dem deutschsprachigen Raum aktiv sind."
Wer an den Regalen vorbei geht, bekommt eine Ahnung von der Vielfalt der Weltanschauungen abseits der anerkannten Religionsgemeinschaften. Das Spektrum reicht von A wie Apostolische Gemeinschaft oder Astrologenverband, buddhistische Gruppen über Scientology, völkischen Kreise oder die Zeugen Jehovas. Und die Sammlung wächst noch weiter, immer neue Gruppen kommen hinzu.
Es ist das Werk von über 20 Jahren Sammelarbeit. Hubert Seiwert war Professor für Religionswissenschaft in Leipzig. Seit dem vergangenen Jahr ist er im Ruhestand und kümmert sich nun aushilfsweise um den Bestand. Die kleine Dokumentationsstelle ist beim religionswissenschaftlichen Institut der Uni Leipzig angegliedert und musste immer aus den laufenden Mitteln betrieben werden, eine gesonderte Finanzierung von Seiten der Uni Leipzig gab es und gibt nicht. Seiwert über die Entwicklung:
"Ich bin 1994 nach Leipzig gekommen. Und habe dann gleich mit dem Aufbau dieser Sammlung begonnen, weil damals in der bundesdeutschen Öffentlichkeit starke Diskussionen liefen über sogenannte Sekten und religiöse Minderheiten. Es bestand ein Bedarf an First-Hand Information, also Informationen, nicht von irgendwelchen dritten Seiten, sondern von zum Gruppierungen direkt."
Direkt nach der Wiedervereinigung, in den teils chaotischen 90er-Jahren, die für viele im Osten mit tiefgehenden Umbrüchen oder auch Arbeitslosigkeit geprägt waren, sah man die Gefahr, dass dies zu einer rasanten Ausbreitung von religiösen Gruppen jenseits der Amtskirchen führen könnte:
"Es bestand eine Erwartung, dass sich sogenannte Sekten, worunter man damals Gruppen wie Scientology, verstand, dass die sich in Ostdeutschland ausbreiten würden, weil es hier ein ideologisches Vakuum bestand, nachdem der Sozialismus zusammengebrochen war als Ideologie."
Das Material zu Scientology war Ausgangspunkt und bildet einen der Schwerpunkte des Archivs. Was sonst noch so zu finden ist, erklärt Student und Archivar Thomas Reinstadler:
"Wenn Sie eine konkrete Bewegung suchen, dann gehen Sie hier oben auf Bestand und es spuckt Ihnen die Materialien aus."
Mit wachen Augen neue Gruppen suchen
Wer sich durch die Datenbank klickt, findet über 18.000 Einträge zu über 400 Gemeinschaften. Es ist damit das bundesweit einzige Hochschularchiv dieser Art. Die Schriften fordern Seiwert und seine Mitarbeiter direkt bei den Gruppen an, es sind Bücher, Zeitschriften, Flugblätter. Oder er geht mit wachem Auge durch die Stadt, wenn er einen Stand mit Informationsmaterial von potentiell neuen Gruppen sieht, dann nimmt Seiwert etwas mit.
Nirgendwo sonst ist in öffentlicher Trägerschaft ein vergleichbares Spektrum an Schriften von weltanschaulichen Gruppen versammelt. Einzig eine privat geführte Religionswissenschaftliche Medien- und Informationsdienst in Marburg kann mithalten.
Informationen über weltschanschauliche Gruppierungen aus erster Hand bereit stellen, das ist das Ziel des Archivs, sagt Katharina Neef, die das Archiv als Dozentin betreut und genutzt hat:
"Sowohl für Hausarbeiten, als ich noch studiert hab. Aber es ist auch eine sehr schöne Quelle, wenn man Seminare veranstaltet mit gerade eingestiegenen Studenten, die man direkt zur Quelle schicken kann. Wenn man direkt aus einer Zeitung der Zeugen Jehovas extrahieren kann, was die so bewegt. Das ist eine sehr gute Übung."
Allerdings: Nicht alle Materialien sind für die Öffentlichkeit zugänglich, manches steht ausschließlich für die wissenschaftliche Aufarbeitung bereit.
Nach über 20 Jahren Archivarbeit lässt sich auch ein Wandel bei den weltanschaulichen Gruppen beobachten. So habe Scientology in der öffentlichen Wahrnehmung mittlerweile seinen Schrecken verloren, findet Seiwert. Die charismatischen oder Pfingstkirchen sieht er dagegen auf dem Vormarsch:
"Die protestantischen, charismatischen pfingsterlischen Bewegungen, die lokal organisiert sind als Kirchen, die haben auch eine globale Vernetzung. Das ist eine Bewegung, die sich in Deutschland zeigt, aber die vernetzt ist mit den Vereinigten Staaten oder Südamerika oder Afrika. Das ist religionswissenschaftlich sehr spannend, was sich da abzeichnet."
Fazit: Es ist äußerlich eher eine unscheinbare Sammlung. Aber so viele verschiedene Erklärungsmuster zu dem was die Welt im Inneren zusammenhält, auf engsten Raum, gibt es in Deutschland nicht noch einmal.

Einzigartig aber vernachlässigt: Klavier-Tanzrollen, Dissidenten-Nachlässe, Herbarien, Moulagen: In deutschen Universitäten lagern Schätze, von denen wir nichts oder kaum etwas wissen. Denn oft sind die wertvollen Sammlungen in Abstellräumen oder Kellern versteckt. Unsere Fazit-Reihe "Universitäre Sammlungen" hebt diese verborgenen Schätze wieder ins Bewusstsein. In der nächsten Folge am Mittwoch 29. Juli geht es um die Sammlung zur Musik Afrikas der Universität Mainz.

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