Unbestechlicher Chronist

04.06.2009
Der 2001 verstorbene Dichter Thomas Brasch hinterließ nicht nur makellose Verse. Auch als Übersetzer hat er hervorragende Arbeit geleistet. Der Interview-Band "Ich merke mich nur im Chaos" gibt Auskunft über das Leben des 1976 aus der DDR ausgewanderten Literaten und über die deutsch-deutschen Verwicklungen.
Thomas Brasch war in der DDR ein Geheimtipp. Als er sie 1976 verließ - er gehörte zu den Erstunterzeichnern, die gegen die Ausbürgerung Wolf Biermanns protestierten - kannten ihn auch im Westen nur wenige. Er wollte in der DDR nicht bleiben, weil sein Band "Vor den Vätern sterben die Söhne" dort nicht erscheinen durfte. Aber auch nach seinem Weggang blieb Brasch unbequem. Er hatte die DDR nicht geschont und ließ auch gegenüber der Bundesrepublik keine mildernden Umstände walten. Brasch fühlte sich weiterhin dem Projekt Sozialismus verbunden, weshalb er nicht mit Kritik an seiner realen Existenz sparte. Thomas Brasch war 56 Jahre alt, als er 2001 starb. Inzwischen ist man dabei, diesen Dichter zu entdecken, der makellose Verse hinterlassen hat.

Das Kind jüdisch-kommunistischer Eltern kam 1946 aus England in die Sowjetische Besatzungszone. Seine Herkunft machte ihn in der DDR zum Außenseiter, eine Erfahrung, die ihn prägte. In den Interviews, die jetzt im Suhrkamp Verlag erschienen sind, lernt man Brasch als einen beherrschten, dennoch ungeduldigen und ungemein wachen Gesprächspartner kennen, der bereitwillig Auskunft über sein Leben, das Theater und seine Arbeit gibt. Im ersten Interview, das 1977 im "Spiegel" erschienen ist, kommt er auf die Gründe seines Weggangs aus der DDR zu sprechen. Das Gespräch, das Thomas Wild 2001 mit Thomas Brasch über Uwe Johnson führte, beschließt den Band. Es gehört zu den beeindruckendsten Zeugnissen des Buches, denn Brasch äußert sich über einen Wahlverwandten. Wie Johnson, der eine Schreibblockade überwinden musste, um den vierten Band der "Jahrestage" vollenden zu können, suchte auch Brasch nach einer Form für sein "Brunke"-Manuskript, das einen Umfang von mehreren tausend Seiten angenommen hatte.

Die Interviews lassen sich nicht thematisch ordnen, denn Äußerungen über Brecht, Shakespeare, Georg Heym, Tschechow, das Theater und die jüngste Vergangenheit finden sich an verschiedenen Stellen. Darüber hinaus erfährt man aus den Interviews, wie es Brasch in der DDR ergangen ist. Der Schüler einer NVA-Kadettenschule wurde 1965 vom Journalistik-Studium exmatrikuliert und 1968 zu 24 Monaten Gefängnis verurteilt, weil er gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die CSSR protestiert hatte. Nach zweieinhalb Monaten Haft wurde er entlassen und musste sich in der Produktion bewähren. Seine Stücke wurden in der DDR entweder verboten oder unmittelbar nach der Premiere abgesetzt, 1975 erschien als einzige DDR-Veröffentlichung ein schmaler Band mit Gedichten in der Reihe "Poesiealbum".

Die Interviews vermitteln nicht nur einen Einblick in das Leben und Denken von Thomas Brasch, sondern sie spiegeln auch die deutsch-deutschen Verwicklungen jener Jahre. Brasch war ein unbestechlicher Chronist und ein hervorragender Übersetzer. Was er u.a. zu Shakespeare, Brecht oder Tschechow sagt, zeugt davon, wie vertraut er mit dem Werk seiner schreibenden Kollegen war. Allerdings war Brasch den Medien gegenüber nicht blauäugig. Er hatte Entscheidendes zu sagen, ohne alles sagen zu wollen. Die Interviews sind wichtige und unverzichtbare Materialien, die zu einem Autor und seinen poetischen Texten führen. Denn erst da begegnet man Thomas Brasch, wie er gesehen werden wollte: als Dichter. "Wer in mein Leben will, muss durch mein Zimmer gehen", der Titel des Gedichtbandes, der Texte aus dem Nachlass vereint, liest sich dafür wie ein Programm.

Rezensiert von Michael Opitz

Thomas Brasch: Ich merke mich nur im Chaos, Interviews 1976 – 2001
Herausgegeben von Martina Hanf in Zusammenarbeit mit Annette Maennel
Suhrkamp Verlag/ Frankfurt am Main 2009
316 Seiten, 22,80 Euro