"Unabhängiges Programm nach Qualität und Vorlieben"

Wulf Herzogenrath im Gespräch mit Jürgen König · 15.07.2010
Seit 1823 setzt sich die Bremer Bürgerschaft für den Ankauf von Kunstwerken ein. Selbst die ältesten Mitglieder des Kunstvereins seien fasziniert vom Umgang der Gegenwartskünstler mit den ewigen Themen der Menschheit, berichtet Wulf Herzogenrath.
Jürgen König: Nirgends auf der Welt gibt es eine solche Fülle von Kunstvereinen wie im deutschsprachigen Raum. Seit rund 200 Jahren pflegen engagierte Bürger in Kunstvereinen ihre Liebe zur Kunst, suchen zu vermitteln, was heute gerade an zeitgenössischer Kunst große Museen der Öffentlichkeit oft genug nicht mehr wirklich vermitteln können. In unserer Gesprächsreihe über die Kunstvereine in Deutschland, Österreich, der Schweiz spreche ich heute mit Professor Wulf Herzogenrath, der viele Jahre lang dem Kölner Kunstverein vorstand, zweimal war er im Leitungsteam der "documenta", er war Hauptkustos an der Nationalgalerie in Berlin, am Aufbau des Hamburger Bahnhofs in Berlin wesentlich mitbeteiligt. Seit 1994 ist er Direktor der Kunsthalle Bremen. Herr Herzogenrath, schön, dass Sie Zeit für uns haben!

Wulf Herzogenrath: Ich freue mich, vielen Dank!

König: Herr Herzogenrath, der Bremer Kunstverein wurde 1823 gegründet, aus vielen Kunstvereinen gingen gegen Mitte des 19. Jahrhunderts Museen hervor, so auch in Bremen, in den Wallanlagen entstand 1849 das erste Gebäude nach Plänen des Architekten Lüder Rutenberg. Einzigartig ist, dass der Bremer Kunstverein mit seinen über 7000 Mitgliedern noch heute privater Träger der Kunsthalle ist. Beschreiben Sie uns doch mal den Bürgersinn der Bremer, was sind das für Menschen, die Millionen geben für die Kunst?

Herzogenrath: Man kann vielleicht erst mal noch mal sagen: Wir sind sozusagen die einzige Institution, das einzige Kunstmuseum, was diese traditionsreiche Trägerschaft, die im 19. Jahrhundert eher normal war, noch immer hat, weil die Bremer Bürger auf der einen Seite ihre Kunsthalle sozusagen nicht in staatliche Obhut geben wollten, auf der anderen Seite das Land, die Stadt Bremen immer natürlich sofort verstand: Wenn die Bürger sich drum kümmern, können wir weniger Geld geben. Natürlich bekommen wir auch einen öffentlichen Zuschuss in Millionenhöhe, aber eben er ist die Hälfte, vielleicht sogar ein Drittel weniger als bei vergleichbaren Museen, weil das, was Sie ansprachen, eben diese private Trägerschaft, noch heute dann ein ganz anderes, ehrenamtliches aber auch finanzielles Engagement ermöglicht, erfordert. Und es ist natürlich was anderes, wenn ich sagen kann: Haben Sie einen Dürer zu Hause? Ach, nein? Aber bei uns haben Sie ein Siebentausendstel von all dem. Was hier uns in der Kunsthalle Wunderbares gehört, das gehört Ihnen als Mitglied.

König: Welche Idee vom Kunstverein liegt dem zugrunde, welche Verpflichtung geht damit einher im Selbstverständnis der Bürger, die sich da engagieren?

Herzogenrath: Ja, das ist eben das Schöne, dass hier noch diese alte Verpflichtung eigentlich ist: auf der einen Seite die Förderung der lebenden Kunst - das war ja im 19. Jahrhundert alleinig das Ziel, dass solche Dinge wie historische Ausstellungen kommen ja erst überhaupt im 20. Jahrhundert -, das auf der einen Seite, aber auf der anderen Seite war ja auch sehr früh im 19. Jahrhundert diese Förderung des Bürgers nicht nur ideell, als Kulturbürger, sondern auch als Sammler, als Förderer der Künstler in der Region und darüber hinaus. Also, diese Idee der Jahresgabe, dieser preiswerten Editionen von Orginalgrafik, geht ja auch zurück aufs 19. Jahrhundert, wo man eben verlost hat unter den Mitgliedern. Als wir 1849 das erste Gebäude, was Bürger als Kunstmuseum bauten, vor Hamburg, vor Köln, vor Leipzig … es blieb eben auch in Mitgliederhand, so dass wir beide Dinge miteinander verbinden: das Sammeln, das Ausstellen und das Fördern.

König: Sie haben ein schönes Motto, nämlich einen Satz des Malers Max Slevogt: "Das Auge sieht, was es sucht." Nehmen wir mal an, zu Ihnen in die Kunsthalle kommt jemand, der sich für Gegenwartskunst interessiert, der auch, sagen wir, zu intellektuellen Leidenschaften fähig ist, der sich einlassen will, aber eben doch Mühe hat, Zugang zu finden zur Kunst unserer Zeit. Womit würden Sie ihn locken wollen, verführen wollen zum besseren Verständnis, zur innigeren Beschäftigung mit Kunst?

Herzogenrath: Da haben wir uns sozusagen kleine, nenne ich es mal, Widerhaken, Anregungen ausgedacht, dass an sechs, sieben Positionen innerhalb der eigentlich normalen Chronologie von Dürer bis in die, na, zumindest 30er-, 40er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein immer auch so kleine Einsprengsel sind mit Gegenwart. Also, um ein Beispiel zu geben: Im Raum der Frührenaissance steht eine Videoarbeit, klein, so wie zwei Laptops, in der Größe von Bill Viola, auf der ein Mann, eine Frau verschiedenste Emotionen auf sehr, sehr slow motion durchleben, und interessanterweise: Selbst die ältesten Mitglieder, die nun seit 50 Jahren das Haus gewohnt sind, stören sich nicht daran, sondern sind fasziniert, weil: Trauer, Liebe, Schrecken sind die Themen der Kunst seit 600 Jahren. Und dass hier das aber mit anderen, neuen medialen Möglichkeiten als Ölmalerei oder Skulptur dargestellt wird, fasziniert auch die Älteren, weil sie natürlich auch Fernsehen gucken, weil sie Filme gucken, weil plötzlich natürlich das bewegte Medium auch in das Museum hineingehört und weil wir sehen, dass die Themen der Kunst sich im Prinzip wenig geändert haben: Es geht um existenzielle Fragen, auch wenn es manchmal ironisch und banalisiert wird.

Diese Themen sind da, und wenn ich das miteinander vergleichen kann, nach rechts und nach links gucke, und ich sehe die Kreuzigung oder ich sehe die Geburt Christi, dann ist Freude und Tod und Trauer etwas, was die Menschheit immer berührt hat und große Künstler immer gestaltet haben. Und so geht es durchs Haus in verschiedenen, nicht in jedem Raum, das wäre sicher auch schrecklich, wenn man jetzt immer sucht, wo ist denn hier jetzt der Widerhaken, aber da, wo es Sinn macht und da, wo es Spaß macht … und der Jüngere, der nur Video gucken will, gibt es ja aber wahrscheinlich auch nicht, der guckt dann auch mal die älteren Dinge an und sagt, huch, was soll das hier? Ach so, es ist dasselbe Format. Ein Porträt ist eigentlich immer gleich geblieben. Wir wollen das immer bis zur sozusagen oberen Brusthälfte, Hals-Kopf, warum ist das über 700 Jahre eigentlich gleich geblieben?

König: Sie holen auch Schüler in die Kunsthalle, gehen ihrerseits in die Schulen, aber nehmen wir mal den ersten Fall: Wenn Sie Schüler zum Beispiel in diesen Raum bitten, den Sie gerade beschrieben haben, die sind ja nun medial ganz anders geprägt - wie reagieren die auf so eine Arbeit, wie Sie sie beschrieben haben von Bill Viola?

Herzogenrath: Also, die freuen sich, weil sie endlich sozusagen irgendwas haben, was mit ihnen direkt zu tun hat, zumindest vom Medium her. Es gibt ein anderes Beispiel, Cindy Sherman, die ja nun sich selber porträtiert als, in unserem Fall, was wir haben, wie so eine, na ja, Holländerin aus dem 17. Jahrhundert, und dann führen wir sie da hin und sagen, na, was hat das denn hier mit diesen holländischen Bildern zu tun? Und dann gucken die doch genauer hin und sehen, halt, das ist ja gar nicht gemalt. Das ist ja fotografiert! Und Fotografie, aha, lügt eine Fotografie? Was wird da inszeniert? All diese Themen sind sehr spannend für Jugendliche, für Kinder, ja, selbst im kleinsten Alter können die ja heute Collagen machen und Dinge aus der Realität zusammensetzen.

Das ist eine ganz wichtige Arbeit wie auch - wofür wir einen nationalen Preis bekommen haben, ich will das gerne erwähnen eben - die Arbeit mit Demenzkranken und ihren Anverwandten, weil die Frage der Erinnerung über Bilder hochspannend ist. Das Ausdrücken mit Worten ist für die Kranken meist sehr schwierig, aber Bilder regen sie an und geben Erinnerungen, das heißt: Unser Programm heißt "Making Memories" und ist unglaublich erfolgreich. Jeder in seinem eigenen Verwandtenkreis weiß, wie wichtig die Arbeit da ist an Punkten eine Erinnerung, eine Stabilität, eine Fassung sozusagen auch für diese Kranken zu kommen. Ich wollte gern diesen Bogen von den ganz Kleinen bis zu den ganz Alten … Also, das Publikum gibt es so ja nicht, sondern es gibt, ich weiß nicht, hunderte von Schichtungen, von Gruppierungen, die individuell und die jeweils anders angesprochen werden müssen. Und so sind auch unsere 7000 Mitglieder natürlich kreuz und quer, alt und jung und ja, sage ich mal, gesund und krank, was immer das heißen mag.

König: Herr Herzogenrath, kommen wir zum Schluss auf die Zukunft der Kunstvereine. Wir erleben ja immer öfter, dass Museen ihr Heil in Großausstellungen suchen, in Kunst-Events, mit denen dann Aufmerksamkeit, vielleicht auch Geld zu gewinnen ist. Gleichzeitig werden die Ankaufetats der Museen kleiner. Dazu kommen Sammler, die eigene Museen eröffnen. In welche Rolle geraten durch diese Entwicklung die Kunstvereine und welcher Weg ergibt sich daraus für die Zukunft oder in die Zukunft?

Herzogenrath: Ja, schön, dass Sie das ansprechen, denn man muss sich klar machen, dass diese paar, meist sind es ja gar nicht mehr als 100.000, 200.000 Euro, wenn überhaupt, bei den kleinen Vereinen – diese, ich sage jetzt mal ruhig bewusst winzige Summe macht aber die kleineren, mittleren und eben auch die größeren Kunstvereine unabhängig von dem Kunstmarkt, von dem Einfluss derer, die sagen, komm, ich gebe Dir eine Ausstellung umsonst, wenn du meine Sammlung … Wenn, sagt der Galerist, meinen Künstler hier zeigst, dann brauchst du nicht viel zahlen. Diese kleine finanzielle Unabhängigkeit schafft das, was die Kunstvereine in den letzten 50, 60 Jahren so stark gemacht hat, nämlich ein wirklich unabhängiges Programm nach Qualität und natürlich nach den Vorlieben, dem Engagement des Leiters oder der ehrenamtlich dort tätigen Kunstvereinsmitglieder so zu gestalten, dass eben diese Arbeit anders aussieht als der wunderbare Messeauftritt in Basel oder in Köln. Kunst auf der Messe ist was anderes als Kunst in Kunstvereinen, und diese Unabhängigkeit sollte unbedingt bleiben.

Das Zweite, was ich gern zu dem Thema sage, ist: Krise der Kunstvereine, wird ja auch schon wieder geschrieben, gab es immer, ich bin ja nun lange genug dabei, in den 70er-, frühen 80er-Jahren gab es ein Extraheft der Zeitung "Kunstwerk": Krise der Kunstvereine, knallrot. Und im Prinzip sollten wir, die wir themenspezifische, weiß ich, feministisch, gesellschaftlich, medial neue Felder betraten, sollten wir eigentlich nach Meinung der erfolgreichen Kunsthändler abgewickelt werden, weil wir doch nicht populär wären, weil das doch nicht die Kunst wäre, die auf dem Kunstmarkt reüssiert. Und diese Art von Krisendiskussion wird in fünf Jahren genauso wieder da sein, wird immer wieder kommen, solange wir diese Chance haben; diese unabhängigen Geister, die sich widersprechen, die anregend sind, in den Kunstvereinen auch weiter arbeiten lassen.

König: Und uns die Widerhaken im Leben präsentieren.

Herzogenrath: Ja, wichtig, wichtig!

König: Kunstvereine im deutschsprachigen Raum, zum Abschluss unserer Reihe ein Gespräch mit Professor Wulf Herzogenrath, dem Direktor der Kunsthalle Bremen. Herr Herzogenrath, ich danke Ihnen!

Herzogenrath: Ich danke Ihnen auch und einen schönen Sonnentag weiter!