Unabhängig mit Recycling

Von Luise Sammann · 08.03.2013
"Cöpmadam" ist türkisch und heißt "Mülldamen". Das unschöne Wort steht für etwas Positives. Denn die Frauen - alle weit über 40 - verdienen mit ihrem Kunsthandwerk aus Abfall zum ersten Mal im Leben eigenes Geld. Zuvor waren sie abhängig von gewalttätigen Männern.
Fast idyllisch liegt das Städtchen Ayvalik da: ein kleiner Hafen voller Fischerboote, Männer und Frauen, die am Ufer ihren türkischen Cay schlürfen, Touristinnen aus Istanbul, die in knappen Shirts am Wasser entlang spazieren.

Auf den ersten Blick zeigt sich Ayvalik modern. Doch der Eindruck täuscht, findet Zeyno, die irgendwo im Gewirr der Gassen an ihrer Nähmaschine sitzt:

"Mich haben sie damals nicht mal Jeans tragen lassen, das galt als Schande, nur was für Männer. Heute geht das, aber die Frauen werden genauso unterdrückt. Meine Nachbarin lässt sich immer noch von ihrem Mann schlagen!"

Zeyno schnalzt abfällig mit der Zunge. Sie lässt sich von ihrem Mann heute nichts mehr gefallen.

Das Surren elektrischer Nähmaschinen erfüllt den kleinen Laden in Ayvaliks Altstadt, in dem die 51-Jährige und vier andere Türkinnen über ihren Handarbeiten sitzen. Eine von ihnen führt stolz herum:

"Das hier sind die Tüten von Fertigsuppen, da die Strichcodes von Verpackungen. Und hier waren Chips drinnen. Unsere Freunde sammeln den Müll für uns auf der Straße. Wir waschen sie und verwenden sie weiter."

Schmuck und Accessoires aus Abfall
Suna öffnet einen Schrank in der Ecke: Quietschbunte Portemonnaies, Handtaschen mit Tomatensuppenaufdruck, Schminktäschchen mit Vanillepudding- und Strichcodemuster stapeln sich darin. Suna deutet auf ein eingenähtes Schildchen: "Cöpmadam" - Mülldamen - nennen sie und ihre 60 Kolleginnen sich. Aus den Abfällen ihrer Kleinstadt fertigen sie Schmuck und Accessoires.

Mitmachen, erklärt Zeyno, die eine Tupperdose mit bunten Knöpfen durchwühlt, darf jede Frau, die nähen kann - und, die noch nie in ihrem Leben eigenes Geld verdient hat. Keine hohen Hürden in einer türkischen Kleinstadt. Zeyno kichert:

"Ich habe nach der Schule heimlich als Buchhalterin in einer Firma angefangen. Keine zwei Wochen ging das, dann schlug mich mein Vater schon. Er verbot es mir, aber ich ging trotzdem. Dann kam mein Bruder vom Militär zurück. Er kam an meinen Arbeitsplatz, haute mir zweimal kräftig eine runter und nahm mich mit nach Hause. So endete mein Arbeitsleben."

Zeyno hält den knallroten Knopf für eine Tomatensuppentasche in die Höhe. Statt Buchhalterin ist sie heute fünffache Mutter.

Füsun, mit 48 die Jüngste im Raum, wäre gern Lehrerin geworden. Doch darüber lachte der Mann nur, mit dem ihre Eltern sie verheirateten. Zu den Mülldamen ließ er sie dann schließlich doch gehen, als er sicher war, dass nur Frauen beteiligt sind. "Er nimmt uns nicht ernst", sagt Füsun. Ein Glück!

"Am Anfang hatte natürlich jede von uns wegen dieser Sache hier Streit mit ihrem Mann. Warum sollte eine Frau plötzlich arbeiten, warum sollte sie rausgehen, anstatt im Haus zu bleiben? Sorge ich etwa nicht gut genug für dich? Musst du hungern? Typische Fragen für einen türkischen Mann."

Die Tür geht auf! Wie ein Windstoß kommt Tara Hopkins herein gewirbelt - Amerikanerin, klein und drahtig, einen wehenden grünen Schal um den Hals. Die Chefin begrüßt ihre Mülldamen mit Wangenküsschen, dann klatscht sie in die Hände: "Mittagspause ist ein Menschenrecht" ruft sie.

Draußen taucht die Sonne die kleine Kopfsteinpflasterkreuzung in grelles Licht. Rechts das obligatorische türkische Teehaus, in dem von morgens bis abends die Backgammonsteine klickern, links ein Fotogeschäft mit vergilbten Schwarz-Weiß-Bildern im Fenster.

Nur 24 Prozent der türkischen Frauen sind erwerbstätig
Tara legt schützend die Hand über die Augen:

"Eins, zwei, drei kleine Läden - und hier das Teehaus, das traditionell auch Männergebiet ist. Wenn man also die vier Ecken hier nimmt, dann sind drei davon für Männer und unsere ist für Frauen. Das ist genauso viel, wie der Anteil der Frauen am türkischen Arbeitsmarkt: 24 Prozent der Türkinnen arbeiten."

Seit 1989 lebt Tara in der Türkei, hat in Istanbul und Diyarbakir für internationale NGOs gearbeitet, Universitätsprojekte zu Frauenrechten und Entwicklungshilfe geleitet. "Und dann hab ich einfach alles hingeschmissen und bin hierhergekommen". Sie strahlt. Keine riesigen Budgets und Netzwerke mehr, keine theoretischen Abhandlungen über die Rolle der Frau, keine Milleniumsziele. Nur sie und ihre Mülldamen:

"Wenn wir den Frauen hier ihren ersten Lohn auszahlen, dann ist das für sie - diese über 40-Jährigen - das erste Mal, dass sie für etwas bezahlt werden. Sie weinen und sind so dankbar, dass dir klar wird: Dies ist das erste Mal, dass sie stolz auf sich sein können."

Und wer einmal im Leben stolz auf sich war, so Taras Theorie, der lässt sich von anderen nicht mehr alles gefallen. Die Frauen, die jetzt mit erhobenem Haupt aus der Mittagspause zurückkommen, stimmen ihr zu:

Suna: "Die Arbeit hier hat unser Leben verändert. Wir sind jetzt selbstbewusster. Auch, weil wir zum ersten Mal unser eigenes Geld ausgeben können und nicht mehr immer unsere Männer bitten müssen."

Füsun: ""Mit dem ersten Geld, das ich hier verdient habe, habe ich den Nachhilfekurs für meinen Sohn bezahlt. Aber ich gebe auch etwas für mich aus, ich mag schöne Kleidung. Und nachdem der Nachhilfekurs abbezahlt war, habe ich ein Sofa gekauft und die Raten dafür selbst abbezahlt!"

Tara nickt zufrieden. Sie weiß, dass sie mit ihrem kleinen Projekt am Rande der Türkei kaum die Welt verändern wird. Unzählige türkische Frauen erreicht sie erst gar nicht, anderen verbieten Väter oder Ehemänner die Teilnahme. Dennoch wächst die Zahl der Mülldamen stetig, ihre Müllprodukte liegen inzwischen in den schicksten Boutiquen von Istanbul. Das hätten die Frauen anfangs nie gedacht. Und ihre Männer schon gar nicht.
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