(Un)antastbar?

Was ist Würde?

80:12 Minuten
Luftaufnahme auf das Rettungsschiff „Eleonore“ welches ein Schlauchboot hinter sich her zieht. Auf dem Boot sind Menschen in Rettungswesten zu sehen.
Wie sehr die Würde des Menschen geschützt wird, zeigt sich nicht zuletzt im Umgang mit Geflüchteten - wie beispielsweise bei deren Rettung im Mittelmeer. © picture alliance / dpa / Johannes Filous
Moderation: Katrin Heise · 27.02.2021
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"Die Würde des Menschen ist unantastbar", heißt es im ersten Artikel des Grundgesetzes. Dieser oberste Verfassungswert wird durch vieles auf die Probe gestellt. Durch Kriege, Flucht, Armut – auch durch Corona. Was verbinden wir mit Menschenwürde?
"Alle Menschen sind frei und gleich an Würde geboren" heißt es in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte. Auch das Grundgesetzt stellt sie an oberste Stelle: "Die Würde des Menschen ist unantastbar."
Menschenwürde, so leitet sich daraus ab, muss man sich nicht verdienen oder erarbeiten. Jede und jeder besitzt sie von Geburt an – und doch wird sie viel zu oft mit Füßen getreten. Und sie kann als Begriff unterschiedlich gedeutet werden.
So begründete der bayerische Ministerpräsident Markus Söder die frühzeitige Wiedereröffnung von Friseursalons in diesen Corona-Zeiten damit, dass sie "auch mit Würde" zu tun habe.

"Nicht bei allem von Würdeverletzung reden"

"Das ist eine Trivialisierung des Würdebegriffs", so kommentiert Christoph Möllers die Begründung Markus Söders. Die Würde stehe nicht ohne Grund über allen Rechten, so der Professor für Öffentliches Recht und Rechtsphilosophie an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Das Problem jedoch: "Die Würde leidet daran, dass man nicht so richtig weiß, was sie bedeutet. Die Würde wiegt mehr als das Leben, dennoch werden wir Tötungsdelikte immer schwerer verurteilen als eine Würdeverletzung."
Zu schnell werde auch von unwürdiger Behandlung geredet, derzeit zum Beispiel bei der Isolierung pflegebedürftiger Menschen in der Corona-Pandemie. "Ich kann nicht, bei allem, was ich schlimm finde, von Würdeverletzung reden. Die Isolierung alter Menschen ist nicht in Ordnung, ob sie aber eine Würdeverletzung ist, ist die Frage."

Bei Lebensgefahr nichts zu verhandeln

Anders sehe es beim Umgang mit Flüchtenden im Mittelmeer aus, so Möllers. Nicht nur die katastrophalen Zustände in den Lagern seien eine Verletzung der Menschenwürde. Auch die illegalen Push-Backs durch die Europäische Grenzagentur "Frontex".

"Menschen aus Lebensgefahr zu retten, da gibt es nichts mehr zu verhandeln. Aber wir verletzen im Grunde auch unsere eigene Würde, wenn wir zulassen, dass Flüchtlinge ertrinken oder zurückgedrängt werden", so Möllers.
Die Würde zu achten zu schützen, sei nicht nur die Aufgabe des Staates. "Es betrifft uns alle!"

Fundament für die Menschenrechte

"Der Würdebegriff ist die große Herausforderung im Menschenrechtsdiskurs", sagt Dr. Anja Mihr. "Er ist der uneingelöste Begriff."
Die Politik-und Sozialwissenschaftlerin ist Leiterin des Humboldt Viadrina Center on Governance through Human Rights in Berlin und Dozentin für Menschenrechte an der OSZE Akademie in Bishkek, Kirgisistan.

Ihre Erfahrung: In vielen Ländern müsse sie überhaupt erst ein Bewusstsein für Themen wie Menschenwürde und Menschenrechte schaffen. Stattdessen seien dort Würdeverletzungen an der Tagesordnung: Diskriminierung und Gewalt gegen Frauen, gegen Minderheiten.
"Es geht oft ums nackte Überleben."
Umso wichtiger sei Menschenrechtsbildung: "Es ist ein Werkzeug für sie, um ein besseres Leben zu führen."

Unbestimmt, auslegbar, korrigierend

Auch wenn der Würdebegriff unbestimmt und auslegbar sei, er finde sich nicht ohne Grund in jeder Präambel, so die ehemalige Vorsitzende von Amnesty International.
"Wenn wir ihn rausnähmen, wie sähe es dann aus? Dann wären Rechte, wie das Recht auf Arbeit, auf eine gesunde Umwelt, auf Unversehrtheit, viel schneller instrumentalisierbar. Der Würdebegriff korrigiert die Rechte. Er ist wie ein Fundament für die Menschenrechte."

(Un)antastbar? – Was ist Würde?
Darüber diskutiert Katrin Heise heute von 9.05 bis 11 Uhr mit der Menschenrechtsexpertin Anja Mihr und dem Rechtsphilosophen Christoph Möllers. Hörerinnen und Hörer können sich unter der Telefonnummer 0800 2254 2254 beteiligen sowie per E-Mail unter gespraech@deutschlandfunkkultur.de.
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(sus)
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