Umweltbundesamt: Eine Stromlücke gibt es nicht

Klaus Müschen im Gespräch mit Joachim Scholl · 29.09.2009
Pünktlich nach der Wahl veröffentlicht das Umweltbundesamt eine Studie, die zeigt: auch bei Abschalten der Kernkraftwerke wird keine Stromlücke entstehen, selbst wenn keine neuen Kraftwerke gebaut werden. Klaus Müschen, einer der Autoren der Studie: "Wir können mit dem bestehenden Kraftwerkspark und der Energieeffizienz und Erneuerbaren dahin kommen, dass wir die Klimaschutzziele einhalten."
Joachim Scholl: Der sogenannte Atomkonsens aus dem Jahr 2000 sieht vor, dass sieben ältere, deutsche Atomkraftwerke in den kommenden vier Jahren abgeschaltet werden sollen. Mit langen Zähnen hat die CDU in der Großen Koalition daran festhalten müssen. Im Wahlkampf wiederum haben CDU wie FDP schon angekündigt, diese Laufzeiten bei veränderten politischen Kräfteverhältnissen neu zu diskutieren. Die großen Energieversorger, die wittern - logisch - ihre Chance, die Aktien der Unternehmen haben seit dem Wahlsonntag ordentlich zugelegt.

Die Opposition, die schon massiven Widerstand verspricht, dürfte sich dagegen freuen über eine aktuelle Studie, die just von staatlicher Stelle, nämlich vom Bundesumweltamt in Dessau, kommt. Ich bin jetzt mit Klaus Müschen verbunden vom Umweltbundesamt, er gehört zu den Autoren der Studie. Guten Tag, Herr Müschen!

Klaus Müschen: Guten Tag, Herr Scholl!

Scholl: Um gleich die Katze aus dem Sack zu lassen, Sie empfehlen dreierlei: Die alten Atomkraftwerke können ruhig abgeschaltet werden, zudem könne auf den Bau neuer Kohlekraftwerke verzichtet werden, und die Regierung soll stattdessen erneuerbare Energien fördern. Haben Sie schon eine Kiste ökologischen Champagner von den Grünen bekommen?

Müschen: Nein, das ist, glaube ich, nicht notwendig. Die Studie, die wir gemacht haben, setzt sich mit dem sogenannten Phantom der Stromlücke auseinander, ob wir in den nächsten 10, 15 Jahren mit einer Stromlücke rechnen müssen, wenn wir nicht die Atomkraftwerke weiter betreiben beziehungsweise neue Kohlekraftwerke bauen. Und wir haben festgestellt, dass das nicht erforderlich ist. Wir können mit dem bestehenden Kraftwerkspark und der Energieeffizienz und Erneuerbaren dahin kommen, dass wir die Klimaschutzziele einhalten und insbesondere dann auch für die längere Zeit bis 2050 erreichen wollen.

Scholl: Wie kommen Sie denn wissenschaftlich zu diesem Ergebnis?

Müschen: Nun, wir haben uns andere Studien angeguckt, die dieses Thema auch berechnet haben, haben selber Berechnungen angestellt zu den jeweiligen unterschiedlichen Fragen, die dabei zu betrachten sind, also: Welche Annahmen werden gemacht über die noch bestehenden Laufzeiten von jetzt laufenden Kraftwerken? Welche Annahmen werden gemacht über mögliche Energiespareffekte in der Nachfrage? Welche Annahmen werden gemacht über die Bereitstellung von Regelleistungen, das heißt, wie kann ich welche Kraftwerke wie betreiben? Welche sind schnell regelbar - andere Grundlastkraftwerke sind nicht so schnell regelbar -, welche brauche ich in Zukunft insbesondere, wenn wir verstärkt die erneuerbaren Energien ausbauen wollen?

Scholl: Nun haben andere anders gerechnet, also die Deutsche Energieagentur Dena, die geht von ganz anderen Zahlen aus und betont, dass etwa neue Kohlekraftwerke nötig seien, um eine sogenannte Effizienzlücke - also, da haben wir sie, die Versorgungslücke in der Stromversorgung - zu schließen. Wie kommen denn diese unterschiedlichen Zahlen zustande?

Müschen: Das liegt genau daran - und wir haben die Zahlen der Dena uns genau angeguckt -, dass, bezogen auf die Laufzeiten von bestehenden Kraftwerken, bezogen auf die Effizienzsteigerung, bezogen auf regelbare Lasten, bezogen auf Laufzeitverlängerungen auch durch Retrofit-Maßnahmen von bestehenden Kraftwerken, sehr unterschiedliche Annahmen gemacht worden sind. Und wenn ich die Dena-Studie nehme, sind dort immer die pessimistischsten Annahmen gemacht worden und sie kommen dann auf eine Lücke, die ungefähr genauso groß ist, wie dann die Atomkraftwerke im Jahr 2020 möglicherweise noch abdecken könnten, wenn sie weiterlaufen würden.

Wir haben diese Berechnungen so gemacht, wie sie realistisch sind, zum Beispiel bei der Betrachtung: Wie können Laufzeiten von Bestandskraftwerken eingeschätzt werden? Wie können durch Retrofit-Maßnahmen bestehende Kraftwerke länger weiterbetrieben werden? Und Retrofit heißt eben auch, dass man ein Kraftwerk in bestimmten Komponenten auf einen Stand von heute bringt, dass es wie ein neues Kraftwerk weiterfunktionieren kann.

Wir haben uns den Bestand an Öl- und Gaskraftwerken, die in der sogenannten Kaltreserve sind, aber noch auch funktionsfähig sind, angeguckt, und wir haben insbesondere bei der Nachfrageseite geguckt, das heißt: Was gibt es für Effizienzmaßnahmen und was gibt es für regelbare Lasten? Da ist zum Beispiel jetzt das aktuelle Programm von Lichtblick und VW publik geworden, ...

Scholl: Das Kraftwerk im Keller.

Müschen: Genau, das Kraftwerk im Keller, aber nicht als einzelnes, kleines, sondern als virtuelles Schwarmkraftwerk, ...

Scholl: Als vernetztes, ja.

Müschen: ... was, ja, vernetzt zusammengeschaltet wird, zentral gesteuert wird und genau dazu dient, um die erneuerbaren Energien dann gegenzuregeln.

Scholl: Lassen Sie uns vom Sparen gleich sprechen, Klaus Müschen, aber Sie beschwören in Ihrer Studie: Wenn es denn so weiterliefe, also die Laufzeiten verlängert würden, neue Kohlekraftwerke gebaut würden, Sie sprechen von der Gefahr der Überkapazität. Mal ganz schlicht gefragt als Verbraucher: Was ist denn daran so schlecht? Strom ist ja nicht wie Milch, die man wegkippen muss, wenn man sie nicht verbraucht, oder?

Müschen: Na ja, Überkapazitäten sind Kapazitäten, die gebaut werden müssen, die bezahlt werden müssen in der Investition und natürlich dann auch sich im Strompreis niederschlagen. Wenn ich also große Überkapazitäten habe, belastet das ebenfalls die Strompreise. Das heißt, es ist vielleicht gar nicht so sinnvoll, so viele neue Kraftwerke zu bauen, wenn sie denn gar nicht gebraucht werden.

Zusätzlich muss man sagen: Wenn wir uns langfristig die Klimaschutzerfordernisse angucken, dass wir nämlich bis 2050 mindestens 80, wenn nicht sogar 95 Prozent der CO2-Emissionen in Deutschland vermeiden müssen, dann können wir langfristig diese Kohlekraftwerke, insbesondere die Kohlekraftwerke, gar nicht brauchen, weil sie schon jetzt ... wenn wir sie jetzt neu bauen würden, 40 Jahre lang laufen würden, dann einfach zu viele Emissionen hervorrufen würden.

Scholl: Es ist genug Strom da, wir brauchen die alten AKWs nicht mehr und neue Kohlekraftwerke auch nicht. Das sind die Aussagen einer Studie des Umweltbundesamtes, und wir sind mit Klaus Müschen hier im Deutschlandradio Kultur im Gespräch, er hat die Studie wesentlich mit erarbeitet. Das Stichwort haben Sie gerade gegeben mit denen neuen Kohlekraftwerken. Es wird ja von den Energieversorgern argumentiert, dass neue geplante Kraftwerke weitaus schadstoffärmer seien als die alten. Das ist doch erst mal eine einleuchtende Begründung.

Müschen: Das ist technisch im Prinzip natürlich richtig, aber der Emissionsausstoß an CO2 der Kraftwerke wird nicht durch alt oder neu begrenzt, sondern ausschließlich europaweit durch den sogenannten Emissionshandel. Das heißt, wir haben eine gesetzliche Regelung für ganz Europa, wie viel Emissionen aus den Kraftwerken überhaupt bis zum Jahr 2020 herauskommen dürfen. Und ob ich dort ein altes oder ein neues Kraftwerk habe, das entscheidet letztlich nur darüber, wie teuer es ist, das dann zu betreiben.

Scholl: Sie konzedieren aber immerhin auch Spitzenlasten, das heißt also, dann doch manchmal so gewisse Momente, wo der Strom nicht ausreicht und wo man dann sagt, okay, dann müssen wir ihn eben jetzt mal kurzfristig importieren. Im schlimmsten Fall heißt es, dass wir Strom aus osteuropäischen Uralt-AKWs beziehen müssen. Das kann nicht in Ihrem Sinne sein.

Müschen: Das ist falsch. Wenn es um Spitzenlast geht, kann es auf keinen Fall Strom aus Atomkraftwerken sein, denn diese sind nicht spitzenlastfähig, das sind sogenannte Grundlastkraftwerke, die mit einer konstanten Last rund um die Uhr über 8000 Stunden im Jahr laufen sollten. Die kann ich nicht dazu benutzen, um zum Beispiel Windstrom oder Windleistung abzupuffern oder Sonnenleistung abzupuffern, die kann ich nicht rauf- und runterfahren, sondern da brauche ich flexible entweder Gaskraftwerke, die ich neu bauen kann oder wo ich alte nutze, oder dann auch Kohlekraftwerke, die in der Mittellast eingesetzt werden und mit einer Reserve dann auch in den regelbaren Bereich gehen.

Aber ich kann genauso gut eben auch im Bereich der Versorgung, also der Verbraucherlasten an- und abschalten, indem ich zum Beispiel große Kühlanlagen abschalte, wenn nicht genügend Strom zur Verfügung steht. Diese Kühlanlagen haben in der Regel sehr träge Wärme- und Kälteversorgungsfunktionen, sodass ich die auch für bestimmte Zeiten abschalten kann.

Es werden bundesweit über Hunderte, wenn nicht Tausende von Megawatt Verträge gemacht zwischen Energieversorgern, die genau diese regelbaren Lasten auch handeln inzwischen. In anderen Bereichen, wo die Marktwirtschaft viel mehr greift - nehmen Sie zum Beispiel die Telekommunikation oder die Flugreisen oder den Schienenverkehr -, dort gibt es inzwischen Preise, die die Nachfrage berücksichtigen. Das heißt, wenn viel nachgefragt wird, ist es teurer zu telefonieren oder mit dem Flugzeug zu fliegen oder mit der Eisenbahn zu fahren.

Und genauso müsste das Stromnetz ebenfalls solche Preissignale senden. Es gibt die Idee, so was mit Smart Metering zu machen, also intelligente Strommessgeräte bei den Verbrauchern einzubauen, die dann nicht nur anzeigen, wie teuer ist der Strom derzeit, sondern möglicherweise über intelligente Technik dann verknüpft wird mit den Verbrauchern, sodass Verbraucher, die derzeit nicht gebraucht werden, dann auch vom Netz genommen werden.

Scholl: Herr Müschen, nun kommt Ihre Analyse punktgenau zum Wahlergebnis und zum Regierungswechsel. Jetzt sagen Sie mir bloß nicht, dass das Zufall ist.

Müschen: Es ist in dem Fall soweit Zufall, dass es erst so spät rausgekommen ist. Wir hatten die Studie eigentlich schon Ende des Sommers fertig, wir haben einen neuen Präsidenten bekommen, natürlich musste der neue Präsident erst mal diese Studie auch zur Kenntnis nehmen und konnte nicht innerhalb von kurzer Zeit die dann veröffentlichen. Dass Sie nun wirklich einen Tag nach der Wahl rausgekommen ist, lag auch an technischen, an Layout-Sachen und an der Pressestelle. Also, da kann ich im Detail jetzt nichts sagen.

Scholl: Sie riskieren damit den Vorwurf, das Umweltbundesamt mache ja schamlos Politik. Das werden Sie zu hören bekommen.

Müschen: Das Umweltbundesamt macht in der Regel überhaupt nie Politik, sondern berät die Bundesregierung und natürlich auch die Öffentlichkeit wissenschaftlich zu Fragen der Wirtschaft und der Gesellschaft, die die Umwelt betreffen, nach wissenschaftlichen Grundsätzen. Was die Politik mit diesen Ergebnissen, die wir produzieren, macht, ist erst mal dann auch Sache der Politik. Es gibt Beispiele, wo die Politik auf uns hört, es gibt andere Beispiele, wo die Politik nicht so schnell auf uns hört, wie wir uns das vielleicht wünschen.

Scholl: Mit Sicherheit wird die Politik darüber diskutieren. Genug Strom, auch ohne neue Kraftwerke - das war Klaus Müschen, Autor einer entsprechenden, aktuellen Studie vom Umweltbundesamt. Dort leitet er die Abteilung Klimaschutz und Energie. Ich danke Ihnen für das Gespräch, Herr Müschen!

Müschen: Ich danke auch! Wiederhören!