Umsonst ist nur der Tod

17.11.2009
Zwischen Kompakt-Anlage, Römertopf und VW Polo: Gerhard Henschel arbeitet im "Jugendroman" weiter am Porträt der Familie Schlosser und ist dabei mittlerweile in den 70er-Jahren angekommen.
Es begann mit dem Briefroman "Die Liebenden". Gerhard Henschel erzählte darin die ganz normale Geschichte der Eheleute Ingeborg und Richard Schlosser, die nach dem Krieg eine Familie gründen und im Laufe der Jahre erleben müssen, wie ihre Lebensträume zwischen Doppelgarage und Einbauküche auf der Strecke bleiben.

Kurz darauf erschien der "Kindheitsroman", in dem Henschel sich erneut den Schlossers widmete und die späten 60er- und frühen 70er-Jahre nun noch einmal aus der Sicht von Martin erzählte, dem dritten der vier Kinder. Mittlerweile war klar, dass der 1962 geborene Schriftsteller die Geschichte seiner eigenen Familie erzählte. Martin Schlosser ist sein literarisches Alter Ego, und mit ihm wächst sich das Projekt weiter aus: Jetzt erscheint der "Jugendroman", der dem Zeitraum zwischen 1975 und 1977 gewidmet ist.

Auf den ersten Blick ist das eine unruhige Zeit. Während unter der sozialliberalen Regierung die innenpolitischen Kämpfe um die Ostpolitik toben, führt die Anschlagserie der RAF mit den brutalen Morden an Buback, Ponto und Schleyer und den damit verbundenen Großfahndungen zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen. Doch das ist nur die Nachrichtenwirklichkeit der "Tagesschau" – die keine dramatischen Auswirkungen auf das Familienleben der Schlossers hat.

Gerade ist der 13-jährige Martin mit seinen Eltern und seinen Geschwistern aus Vallendar bei Koblenz ins Emsland nach Meppen gezogen. Hier, in der niedersächsischen Provinz, langweilt er sich zu Tode: "Überall nur Äcker, Weiden, Gräben, Zäune." Ablenkung bietet allein das Fußballtraining. Ansonsten besteht sein Alltag aus "Konfi"-Unterricht, Unkrautjäten im elterlichen Garten und einer endlosen Zahl von Physikstunden und Französischlektionen, die Martin im Kreisgymnasium absitzt.

Seine größte Angst ist es, dass es ihm wie seinem Vater und seiner Mutter ergehen könnte – und er bis an sein Lebensende in einem "Kaff wie Meppen" gefangen sein würde: "Und in der ganzen Zeit würde sich absolut nicht das Geringste ändern." Tatsächlich liegt etwas Lähmendes über dem Alltag der Eltern, den Martin mit frühreifer Ironie kommentiert.

Martins Vater, der als Ingenieur bei der Bundeswehr arbeitet, verschwindet nach der Arbeit "mufflig" im Hobbykeller, während seine Mutter nach der Hausarbeit "vor der Flimmerkiste hockt" und "Detektiv Rockford" guckt. Die Kommunikation zwischen den Eheleuten beschränkt sich auf eine Reihe von Gemeinplätzen: "Außer Spesen nichts gewesen", winkt der Vater ab, wenn beim Lotto wieder einmal kein Gewinn abfällt, "umsonst ist nur der Tod", erklärt die Mutter, wenn das Gespräch aufs Thema Geld kommt.
Eigentlich ist Gerhard Henschel eher Chronist und Archivar als Romancier. Er gibt die gesammelten Binsenweisheiten von Martins Eltern akribisch wieder und listet darüber hinaus detailliert die zeitgemäßen Accessoires auf, die in den 70er-Jahren Einzug in die Haushalte der saturierten Mittelschicht finden: Fondue-Set und Kompakt-Anlage, ein VW Polo, ein Römertopf und der Teppich aus dem Quelle-Katalog: Mit diesen Dingen versuchen die Schlossers vergeblich, die Leere im Zentrum ihrer Familie zu füllen. So genau wie Gerhard Henschel hat dieses kleinbürgerliche Trauerspiel schon lange niemand mehr beschrieben.

Besprochen von Kolja Mensing

Gerhard Henschel: Jugendroman
Hoffmann und Campe
Hamburg 2009
540 Seiten, 23 Euro