Umgeben von den eigenen Büchern

Von Tobias Wenzel · 01.11.2008
Was ist der Mensch? Seit der japanische Schriftsteller und Nobelpreisträger Kenzaburō Ōe dieser Frage in seinem Französisch-Studium begegnete, lässt sie ihn nicht mehr los. Zum Auftakt seiner Lesereise las er in Berlin aus seinem neuen Roman "Sayonara, meine Bücher".
Kenzaburō Ōe, ein schlanker Mann im beigefarbenen Sakko und mit exakt dem gleichen runden Brillengestell, das auch einst Jean-Paul Sartre trug, sitzt an einem großen Tisch. Die Hände ruhen in seinem Schoß. Vermutlich auch deshalb, weil kaum noch Platz auf dem Tisch ist. Der ist nämlich von den sämtlichen Werken des japanischen Literaturnobelpreisträgers bedeckt.

"Falls Herr Ōe sich selbst zitieren möchte", erklärt die Dolmetscherin. Eigentlich hatte Kenzaburō Ōe schon vor einigen Jahren verkündet, er wolle keine Belletristik mehr schreiben. Doch der Abschied fällt ihm ebenso schwer wie dem Schriftsteller Kogito, der Hauptfigur seines neuen Romans "Sayonara, meine Bücher":

Kenzaburō Ōe: "Jedes Mal, wenn ich einen Roman oder eine Erzählung begonnen habe, habe ich gedacht: Das wird mein letztes Werk. Auch beim Schreiben des Romans 'Sayonara, meine Bücher'. Aber ich verspüre immer noch den Drang zu schreiben. Gerade schreibe ich wieder und kann mir nicht vorstellen, dass ich danach noch etwas veröffentliche. Aber wer weiß, vielleicht kommt doch noch etwas dazu."

Der Romanheld Kogito, schon länger als das Alter Ego von Kenzaburō Ōe bekannt, wird bei einer Demonstration verletzt, gerät in eine persönliche Krise und spielt mit dem Gedanken, nicht mehr zu schreiben. Doch dank eines alten Bekannten, eigentlich mehr Rivale als Freund, findet Kogito in der Abgeschiedenheit der japanischen Berge wieder zum Schreiben zurück.

Aber sollte man überhaupt noch im hohen Alter Romane schreiben? Der Norweger Dag Solstad sagte Nein und schrieb stattdessen 99 Fußnoten zu dem nicht vorliegenden Roman. Wäre das für Kenzaburō Ōe ein Weg, sich langsam vom Roman zu verabschieden?

"Vielen Dank dafür, dass Sie mich auf dieses Buch hingewiesen haben. Gerade schreibe ich einen biografischen Roman über meinen Vater. Er ist bei einer großen Flut im Zweiten Weltkrieg ertrunken, als er den Damm ausbesserte. Seit den 50er-Jahren will ich über meinen Vater schreiben.

Er hat ein kleines Notizbuch mit vielen Anmerkungen hinterlassen. Und das will ich eigentlich zum Roman ausbauen. Aber mich fasziniert jetzt der radikale Gedanke von Dag Solstad, die Anmerkungen für sich stehen und so den Roman ganz verschwinden zu lassen."

Wenn also das nächste Buch des 1935 auf der Insel Shikoku geborenen Japaners nur aus Anmerkungen bestehen sollte, wissen wir warum. Die Hauptfigur des Romans "Sayonara, meine Bücher" hält sich allerdings von solchen Experimenten fern. Ein gewöhnlicher Roman tut es da auch. Dass er ihn schreiben kann, hat auch damit zu tun, dass er animiert wird durch vier aufmerksame Zuhörer, darunter seine eigene Haushälterin. Man fragt sich, wem Kenzaburō Ōe selbst am liebsten zugehört hat:
"Das ist meine Mutter. Sie ist die Person, die mich am meisten beeinflusst hat. Sie stammt von einer sehr alten Familie ab, die seit sie eh und je im Urwald auf der Insel Shikoku lebte. Meine Mutter hat mir immer wieder Geschichten erzählt.

Keine japanischen Märchen oder andere alte Kindergeschichten. Sie erzählte von den realen Menschen, die sie umgaben, die sie kennengelernt hatte. Diese Erzählfreude hat sich auf mich übertragen. In mir wächst nun fort, was meine Mutter in mir angepflanzt hat."

Die Geschichten der Mutter, die Begegnung und Auseinandersetzung mit Jean-Paul Sartre, aber vor allem die Kriegserfahrung haben den Schriftsteller Ōe zu dem gemacht, der er heute ist:
"Meine erste Erinnerung an den Krieg war die folgende: Damals, als die japanische Armee sehr geschwächt war, griffen die Amerikaner auch unsere kleine Insel aus der Luft an. Da machte eines ihrer Flugzeuge eine Bruchlandung. Und einige unserer Bauern töteten dann die Besatzung. Das war für mich ein Riesenschock. Bis dahin hatte ich, naiv wie ich als ultranationalistisch geprägtes Kind war, gemeint, auch ich würde später Soldat werden, der kaiserlichen Armee beitreten und gegen Ausländer kämpfen.

Dass aber auch meine Mutter, mein Vater, unsere Verwandten, dass Bauern einfach die ausländischen Soldaten töten können, war für mich unfassbar. Der Krieg zwischen Japan und den USA, auf meiner Insel, inmitten des Urwalds, war für mich einerseits Schock und andererseits Anstoß für meine späteren Geschichten."

Während die Romanfigur Kogito die eigenen Geschichten, die geschriebenen und gelesenen Bücher Revue passieren lässt, um wieder selbst zu schreiben, überblickt nun auch Kenzaburō Ōe jenen Tisch, den seine Werke wie Fliesen bedecken. Fast könnte man denken, er empfinde seine Bücher als seine Kinder, so liebevoll verträumt, wie er sie anschaut.
"Diese Bücher sind die Spuren meines Kampfes. Ich habe in meinem Schreibzimmer die Figuren dieser Bücher erschaffen und dann mit ihnen gekämpft. Manchmal haben mich die Figuren auch besiegt. Schreiben heißt für mich, andere Personen zu erschaffen und mit ihnen zu ringen.

Ich glaube, ich habe mich ganz gut geschlagen. Meinen Erfolg möchte ich nicht daran messen, wie viele Leser ich mit meinen Büchern gewinnen konnte, sondern daran, wie gut ich mit den fremden Menschen, den Figuren, gekämpft habe."