Umdenken in der Beziehung von Patienten und Ärzten

Von Michael Hollenbach · 22.10.2011
Menschen, die an Krebs erkrankt sind, brauchen Hilfe - nicht nur medizinische. Die Weltgesundheitsorganisation hat empfohlen, während einer Behandlung für sterbenskranke Menschen nicht nur medizinische, sondern auch psychosoziale und spirituelle Hilfe anzubieten.
Diesen Weg hat als erste medizinische Fakultät in Europa die Münchener Ludwig-Maximilians-Universität beschritten. Sie haben in der Palliativmedizin einen Lehrstuhl für soziale Arbeit und einen für "spiritual care" eingerichtet, für die spirituelle Betreuung von Patienten. Michael Hollenbach berichtet:

"Deswegen liegen hier eine ganze Reihe von Postkarten. Suchen Sie mal einer dieser Karten aus."

Medizinstudium an der Ludwig-Maximilians-Universität. Rund 400 Studierende müssen sich im sechsten Semester mit "Spiritual Care" auseinandersetzen. Aber nicht in einem großen Hörsaal, sondern in Kleingruppen. z angehende Ärzte sitzen an dem großen Tisch in der Bibliothek der Palliativmedizin. Der evangelische Theologe Traugott Roser hat Postkarten ausgelegt mit ganz unterschiedlichen Motiven. Die Studierenden sollen ein Bild auswählen, das ihre eigene Spiritualität am besten ausdrückt.

"Ich habe dieses Bild hier gewählt. Man sieht vom Mond aus die Erde. Spiritualität ist so ein bisschen nach den Sternen greifen, nicht ganz klar gezeichnet, ein bisschen verwischt. Ich habe die Küste gewählt, weil ich denke, dass Natur einem viel geben kann, diese Weite."

Der Theologe Traugott Roser will deutlich machen: Spiritualität kann sich sehr unterschiedlich ausdrücken. Im Religiösen, in der Natur, in der Musik, in der Unendlichkeit:

"Man muss kein Christ sein oder ein Anhänger einer anderen Religion, um Spiritualität für relevant zu halten. Deshalb lehren wir die Medizinstudierenden, dass prinzipiell jeder Mensch spirituell ist."

Mediziner definieren Leben gern als "Körper plus x". Das X steht für das Nicht-Messbare, das Unbekannte, das Spirituelle.

Traugott Roser: "Ein spiritueller Mensch muss nicht religiös sein, aber ein religiöser Mensch ist spirituell."

Der 49-jährige Gian Domenico Borasio gilt als der führende Palliativmediziner Deutschlands. Er hat das neue Studienangebot initiiert. "Spiritual Care" - das bedeutet für ihn die gemeinsame Sorge aller Mitarbeitenden um das Wohl des Patienten:

"Dazu gehören auch die Aspekte, die sich mit der Frage des Lebenssinns beschäftigen, mit der Frage der Geborgenheit, die sich jeder wünscht in der letzten Lebensphase. Diese Geborgenheit kann auch darin bestehen, dass man sich eingebettet fühlt in einen die eigene Erfahrung transzendierenden Sinnzusammenhang, der mit religiösen Begriffen beschrieben werden kann, aber nicht muss."

Die Professur "Spiritual Care" an der Medizinischen Fakultät der Münchener Uni ist ökumenisch besetzt: mit dem evangelischen Theologen Traugott Roser und dem Jesuiten Eckhard Frick. Roser verweist auf eine Forschungsarbeit des Münchener Teams, bei der drei Viertel der befragten Krebspatienten angaben, Spiritualität sei für sie ein wichtiges Thema:
"Weil sie für ihre Verarbeitung der Krankheit auf eine bestimmte Glaubensvorstellungen oder ein Wertekonzept zurückgreifen, das ihnen auch hilft, der aktuellen Situation standzuhalten. Was man auch herausgefunden hat, dass Patienten über diese Themen gern mit ihren Ärzten sprechen möchten, gar nicht unbedingt mit einem Seelsorger, weil dieses Gespräch mit Arzt und Patient dann eine andere Dimension bekommt, und sich ein Patient als ganzer Mensch wahrgenommen fühlt."

Traugott Roser spricht bei den Palliativpatienten von einem so genannten "total pain", der sich zusammensetzt aus einem körperlichen, einem psychischem und auch einem spirituellen Schmerz:

"Und der kann ganz einfache Formen haben wie ein: 'Ich habe mich immer auf Gott verlassen, ich war immer ein frommer Mensch und warum passiert mir so was jetzt. Warum lässt mich Gott allein?‘ Und das ist dann nicht über Medikamente oder gute Schmerzbehandlung in den Griff zu kriegen."

Wenn sich Ärzte und Krankenpfleger in Zukunft intensiver mit Spiritual Care auseinandersetzen sollen, dann bedeute das keineswegs, die Klinikseelsorge abzuschaffen, erklärt Gian Domenico Borasio. Der Palliativmediziner plädiert für eine Kooperation zwischen Ärzten, Pflegern und Seelsorgern:

"Wenn man in deutschen Krankenhäusern Patienten fragt: Möchten Sie den Seelsorger sehen? Dann ist die reflexhafte Antwort: 'Um Gottes Willen, ist es denn schon soweit mit mir? ‘ Und die zweite Antwort, die häufig kommt, ist: 'Ach wissen Sie, ich bin nicht sehr religiös.‘ Dazu haben wir allerdings eine Standarderwiderung: 'Unsere Seelsorger auch nicht.‘ Das ist dann schon ein guter Einstieg in das Gespräch, worum es eigentlich geht."

Eigentlich gehe es nicht um die Frage, wie religiös oder gar wie fromm die Patienten sind, sondern wie man sie spirituell begleiten kann. Die angehenden Ärzte sollten lernen, den Patienten nicht nur auf seine diagnostizierten Daten zu reduzieren, sagt Traugott Roser:

"Der Patient erwartet vom Arzt nicht nur die Mitteilung eines Fakts, sondern auch eine Beziehung. Also muss auch der Arzt wissen, wie kann ich den Patienten in seinem Lebenskonzept gut begleiten."

In seinem Seminar bespricht Traugott Roser konkrete ethische Konfliktfälle - eine Abtreibung, eine Therapieverweigerung aus religiösen Gründen, Wachkoma, Sterbehilfe:

"Das ist mir ein wichtiges Anliegen, dass Sie an dem Punkt medizinisch klar beraten, aber offen sind für das, was die Menschen an spiritueller oder religiöser Beheimatung haben. Weil ganz oft die Familie oder Nachbarschaft sagt: Du darfst das nicht."

Selten tritt das Thema Spiritualität offen zu Tage, sagt Eckhard Frick. Der Jesuit ist der katholische Dozent für Spiritual Care. Er möchte die Ärzte ermutigen, die Spiritualität der Patienten behutsam zu thematisieren:

"Wir können schon sagen, dass viele Patienten und viele Ärzte sich scheuen, das anzusprechen. Viele Ärzte, weil sie sagen, wir haben keine Zeit, wir sind nicht kompetent, und die Patienten meinen oft, dass sie das ihrem Arzt nicht zumuten dürfen, dass der Arzt ja naturwissenschaftlich ausgerichtet ist und dafür keine Zeit hat oder vielleicht abwertend damit umgeht. Also, es gibt eine wechselseitige Tabuisierung des Themas."

Um die Ärzte nicht zu überfordern mit theologischen Grundsatzdiskussionen, plädiert der Jesuit Eckhard Frick dafür, beim ersten Patientengespräch, wenn es um die Diagnose geht, auch das Thema Spiritualität anzusprechen:

"Optimal scheint mir zu sein, dass das Spirituelle in dem routinemäßigen Arzt-Patient-Gespräch seinen Platz hat, keinen sehr großen Platz. Wir glauben, dass eine spirituelle Anamnese als ein öffnendes Gespräch rund fünf Minuten braucht."

Die Studentin Anne-Kathrin Noweski räumt freimütig ein, sie könne eigentlich wenig mit dem Begriff "Spiritualität" anfangen. Ihre Assoziationen hätten da wenig mit Gott zu tun, sondern eher mit dem Gefühl eines Getragen-Seins innerhalb ihrer Großfamilie. Die 21-Jährige ist nicht getauft und alles andere als religiös erzogen worden. Doch in dem Kurs habe sie gelernt, dass Spiritualität eine wichtige Ressource zur Krankheitsbewältigung sein kann:

"Ich finde das eigentlich toll, wenn man einen religiösen Hintergrund hat. Ich weiß nicht, ob ich das für mich gewünscht hätte. Es ist einfach bei mir nicht der Fall, weil das in meiner Familie nicht so ist, aber ich finde es sehr schön für die Menschen, die dadurch auch eine Sicherheit gewinnen können. Und ich kann mir vorstellen, dass auch zu unterstützen."

Anne-Kathrin Noweski und ihr Kommilitone Patrick Peschke waren zunächst skeptisch, als sie erfuhren, dass Spiritual Care an der Münchener Uni zum Pflichtkanon des Medizinstudiums gehört

"Ich habe bisher wenig Erfahrung damit gemacht, je mehr man in die Materie einsteigt, wird es immer wichtiger. Ich finde es sehr gut, dass man durch die Beispiele, die wir in den Kursen haben, mit dem Thema konfrontiert wird, weil wir als junge Menschen mit Tod und Leid einfach noch nicht so vertraut sind. Von daher sehr gut."

Palliativmedizin ist der einzige Studienabschnitt, in dem sich die künftigen Ärzte so intensiv mit den Themen Sterben und Tod auseinandersetzen. Dennoch stieß Gian Domenico Borasio auf Skepsis bei der Etablierung von "Spiritual Care" an der Münchener Uni:

"Die Kirchen insgesamt haben Bedenken bei der Vorstellung, dass sie womöglich ihre alleinige Deutungshoheit auf einem ganz wesentlichen Bereich der pastoralen Tätigkeit verlieren könnten."

Denn bislang haben die Klinikseelorger ein Monopol auf die spirituelle Betreuung. Aber auch bei den Medizinern gab es erhebliche Widerstände:

"Ein hochrangiger Professor fragte im Verlauf der Etablierung dieser Professur allen Ernstes, was denn der Unterschied zwischen spiritual care und Aromatherapie sei. Es ist nicht immer einfach, in solch eher trägen Systemen Veränderungen einzubringen und es geht auch nicht ohne Verluste ab."

Als dann die Professur Spiritual Care eingerichtet war, musste Gian Domenico Borasio die Münchener Uni verlassen. Sein Vertrag wurde nicht verlängert:

"Weil eben die kumulierten Widerstände gegen diese Neuigkeiten sich auf mich kanalisiert hatten. Aber das ist Teil eines historischen Prozesses, der nicht mehr aufzuhalten ist."