Ultraorthodoxe Aussteiger in Israel

"Wer zweifelt, steigt aus!"

Jüdische Männer tanzen in einem Kreis, in der Mitte stehen zwei kleine Jungen.
Ultra-orthodoxe Juden tanzen beim Simchat-Tora-Fest in Jerusalem. Wer aus dieser Gemeinschaft aussteigt, muss sich komplett neu orientieren. © picture alliance / dpa / Abir Sultan
Von Lissy Kaufmann · 04.03.2016
In Israel kehren jährlich hunderte orthodoxe Juden der religiösen Welt den Rücken. Die Orientierung in der säkulären Welt ist nicht einfach. Ihnen fehlt das Wissen über die ungeschriebenen Regeln im Alltag und auch im Job. Ein Besuch bei zwei Familien.
"Ich bin ausgestiegen, weil diese Gemeinschaft heuchlerisch ist. Wenn es Werte gegeben hätte, die ich wertgeschätzt hätte, wäre ich sicher dort geblieben. Aber ich sah unmoralische Dinge, die für mich nichts mit den Werten des Judentums zu tun hatten. Da habe ich den Entschluss gefasst, dass diese Gemeinschaft nicht das Richtige tut - und bin gegangen."
Romi Kursia sitzt in ihrem Wohnzimmer in Petach Tikwa und erzählt von ihrem Ausstieg aus der Welt der Ultraorthodoxen. Hunderte lassen in Israel jährlich das haredische Leben hinter sich. Einige nehmen ihre Kinder mit in die säkulare Welt - wie die 34-jährige Romi.
Heute lebt sie mit ihren fünf Kindern als Alleinerziehende. Sie trägt ihr dunkelbraunes, lockiges Haar offen, dezentes Make-up und Jeans, in der Nase ein Piercing. An der Wand steht ein Fernseher. All das wäre vor einigen Jahren undenkbar gewesen. Romi blättert durch ein Fotoalbum aus jener Zeit, in der sie noch ultraorthodox und frisch verheiratet war:
"Hier ist noch ein Bild von mir und meinem ersten Ehemann. Er ist ganz in Schwarz gekleidet, hat Schläfenlocken, er sieht aus wie ein Rabbiner. Sein Bart ist lang und dick, und mit seinem langen Mantel sieht er so alt und steif aus. Ich habe nie eine Verbindung gespürt, habe es immer als seltsam empfunden, obwohl ich ja selbst auch so angezogen war. Ich bin heute 15 Jahre älter, sehe aber viel jünger aus als damals, völlig bedeckt und mit einer Perücke auf dem Kopf."

Romi vermisst Zuneigung und Nächstenliebe

Romis Leben war geprägt von streng religiösen Regeln. Frauen müssen in dieser Welt ihr Haare und so viel Haut wie möglich bedecken. Sie sollen die Kinder großziehen, während der Mann in der Jeshiva lernt. Ehen werden nicht aus Liebe geschlossen. Sie werden arrangiert. Romi heiratete mit 17. Ihren Mann hatte sie nur zweimal vorher kurz getroffen. Zuneigung, Zärtlichkeit, Nächstenliebe, all das hat Romi damals vermisst.
"Sie glauben, dass sie nach der Thora leben, weil sie diese entsprechend interpretieren. Sie halten am Schabbat sehr sehr streng Ruhe, sie kleiden sich extrem züchtig. Es geht nicht so sehr darum, ein guter, mitfühlender Mensch zu sein. Mehr um die Fragen: Wie lang ist dein Rock? Wie lange deine Ärmel? Welche Farbe haben deine Strumpfhosen?"
Es gibt Familien, die damit glücklich werden. Doch um die Probleme in der Welt der Charedim und die Gründe für Romis Ausstieg zu verstehen, muss man ihre Geschichte von Anfang an erzählen.
Romi wuchs in der religiösen Stadt Bnei Brak, einem Vorort von Tel Aviv, auf. Ihre Eltern trennen sich noch vor ihrer Geburt, was sie zu einer ungewollten Außenseiterin machte. Ihre Mutter misshandelt sie, körperlich und psychisch. Später, während ihrer Schwangerschaft, wird sie depressiv. Es gäbe kein Auffangnetz für Fälle wie sie, sagt Romi, Sozialarbeiter kennt die haredische Welt nicht. Von einem Rechtssystem hatte Romi nie gehört:
"Selbst Lehrer, die wussten, dass bei mir etwas nicht Ordnung ist, haben ihre Augen verschlossen. Einmal habe ich mich weinend an eine Freundin meiner Mutter gewandt, sie um Hilfe gebeten. Doch sie bat mich, zu gehen, sie wollte nicht, dass ich ihren guten Namen beschmutze. Sie hatten Angst, dass ihre Kinder dann keinen Partner finden würden. Deswegen wolle sie mit unseren Probleme nichts zu tun haben."
Romi begann, immer mehr zu zweifeln. Darum wird die Abkehr vom orthodoxen Judentum im Hebräisch auch "iotze be sheela" genannt - fragend aussteigen. Denn Hinterfragen und Dinge genau wissen wollen, das ist in der haredischen Welt tabu. Gemacht wird, was die geistlichen Anführer sagen. Romi aber konnte nicht glauben, dass das der richtige Weg ist:
"Ich glaube an Gott, hatte mich aber immer vor ihm gefürchtet. Dann habe ich angefangen, mit ihm zu sprechen, habe mir gesagt, dass ich keine Angst mehr vor Gott haben möchte, dass ich mich stattdessen an ihn wenden möchte. Ich wollte fragen, warum mir das alles passiert ist. Ob ich nicht vielleicht etwas Besseres verdient habe. Und ob das vielleicht nicht der richtige Weg ist, um Gott zu dienen. Ich habe verstanden, dass mir andere Werte wichtig sind, Güte und Barmherzigkeit. Ich habe meine beiden Kinder angesehen und wollte, dass sie anders aufwachsen, dass sie ihre eigenen Persönlichkeiten entwickeln, dass sie Dinge infrage stellen können."

Kinder müssen auf nationalreligiöse Schule gehen

Dann trennte sich Romi von ihrem Mann. Sie hatte großes Glück, konnte die beiden Kinder mitnehmen. Heute bekommt sie sogar Unterhalt - sowohl von ihrem ersten, wie auch von ihrem zweiten, nicht-haredischen Ex-Mann und Vater von drei weiteren Kindern. Das ist oft nicht der Fall, erklärt Avi Neuman von der Organisation Hillel, die Aussteigern wie Romi hilft. In vielen Fällen müssen die Aussteiger ihre Kinder zurücklassen.
"In dieser Situation beginnt meist ein Kampf um das Sorgerecht. In Israel gibt es die religiösen und die zivilen Gerichte. Und das Gericht, bei dem ein Fall zuerst eröffnet wird, ist dann auch zuständig. Viele der Frauen, die aussteigen, wissen nicht, dass es auch zivile Gerichte gibt. Und das ist ein Problem, denn das oberste Ziel der religiösen Gerichte ist immer, dass die Menschen in der haredischen Gemeinschaft bleiben."
Um das Sorgerecht für die Kinder zu bekommen, musste Romi einige Bedingungen eingehen: Die Kinder müssen zumindest auf nationalreligiöse Schulen gehen, wo neben säkularen Fächern auch religiöse Werte unterrichtet werden. Und: Am Schabbat bleiben Fernseher, Handys und andere elektronische Geräte aus. All das machte den Wandel weniger radikal und erleichterte den Kindern den Ausstieg. Außerdem waren sie damals noch im Kindergartenalter und konnten sich deshalb schneller an das neue Leben anpassen. Da sie aber hin und wieder ein Wochenende beim Vater verbringen, ist ihnen der Unterschied bewusst. Es ist ein Leben zwischen zwei Welten.
"Jetzt, da sich ihr Vater darüber beschwert, wie ich sie großgezogen habe, frage ich sie: Was denkt ihr denn darüber? Und sie sagen, dass sie mit ihrem Leben glücklich sind. Die neue Frau ihres Vaters hat einen Jungen im Alter meines Sohnes, der 16 ist. Und er vergleicht: Der andere Junge trägt schwarze Kleidung, geht in die Jeshiva, hat kein Smartphone und keinen Computer. Und mein Sohn sagt mir: Der Junge ist überhaupt nicht erwachsen. Er merkt, dass er viel mehr weiß. Das gibt ihm Selbstvertrauen."
Der Ausstieg mit Nachwuchs ist eine doppelte Herausforderung. Romi hat ihren Kindern lange verheimlicht, dass sie selbst am Schabbat mit dem Auto fährt und den Fernseher einschaltet, wenn die Kinder nicht da sind. Sie hatte Angst. Würden sie der Mutter nicht mehr vertrauen? Ihr wütend den Rücken zukehren? Erst nach unserem Gespräch wagt Romi den Schritt. Ihre 13-jährige Tochter sei zunächst geschockt gewesen und habe geweint. Doch Romi versprach ihr, den Schabbat weiterhin einzuhalten, wenn die Kinder das Wochenende bei ihr verbringen.

Eltern können nicht bei den Hausaufgaben helfen

Auch Mina Karp weiß, wie es sich anfühlt, die eigenen Kinder aus ihrer vertrauten Umgebung herauszureißen. Sie lebt heute mit ihrem Mann und ihren vier Kindern in der Küstenstadt Aschkelon. An diesem Nachmittag kommt ihre älteste Tochter Hanni von der Schule nach Hause.
Wie geht's, fragt die Mutter Mina Karp. Alles gut, sagt die Neunjährige. Seit mehr als einem Jahr lernt Hanni nun an einer komplett säkularen Schule, trägt nicht mehr Rock und langärmelige Blusen, sondern Leggins, T-Shirt und Turnschuhe. Sie erklärt, wie sich der Ausstieg angefühlt hat:
"Es ist, als ob man in eine neue Welt eintritt, ohne irgendetwas darüber zu wissen. Stell dir vor, du gehst nach China. Kennst du dort Leute? Sprichst du die Sprache? Findest du dich zurecht? Nein! Es ist schwer."
"Was war am schwierigsten?"
"Die Kleidung. Du hast dich vorher jeden Tag gleich angezogen, nach strengen Regeln. Und plötzlich ist alles anders."
Die restliche Familie und Freunde von früher haben den Kontakt abgebrochen. Hanni hat ihre beste Freundin von damals verloren. Besonders schwer war die Zeit in ihrem alten Heimatort Modiin Illit, als die Familie sich nach und nach vom orthodoxen Glauben abwandte, erzählt Mutter Mina Karp.
"Die Kinder wurden von der Schule und ihrer Umgebung beeinflusst. Alle waren Charedim, alle hielten am Schabbat Ruhe. Nur wir waren plötzlich nicht mehr so, hatten einen Computer zu Hause und schauten am Schabbat sogar fern. Sie konnten nicht verstehen, was los war. Sie dachten, wir wären verrückt geworden. Unsere älteste Tochter wollte weiterhin ihren langen Rock tragen, mein Sohn seine Kippa nicht absetzen. Wir haben ihnen Zeit gegeben."
Mittlerweile fühlt sich Hanni an ihrer neuen Schule wohl. Sie lernt Englisch, und im Biounterricht erklären die Lehrer die Tier- und Pflanzenwelt und wie der menschliche Körper funktioniert. In ihrer alten Schule waren diese Themen tabu. Und so ist auch für ihre Eltern vieles neu. Bei den Schulaufgaben können sie längst nicht mehr helfen.
"Sie wissen fast nichts und können uns kaum helfen. Ihr Wissensstand ist niedriger als unserer. Bis sie eine Aufgabe verstanden haben, habe ich sie auch kapiert."
Es ist auch eine Verlust der elterlichen Autorität. Plötzlich können sie ihren Kindern die Welt nicht mehr erklären. Doch Mina Karp versucht, das beste draus zu machen - und dabei für sich selbst zu lernen.
"Die Kinder blühen richtig auf. Vor einer Woche war ich bei einem Ausflug mit der Schule meiner Tochter dabei. Es war großartig, diese Gemeinschaft zu sehen, es waren Schulen von Beersheva, Aschkelon und Netiwot dabei. Alle Viertklässler waren zusammen. Es war so schön, das zu sehen, diese Gemeinschaft, alle waren akzeptiert. Sowas gibt es bei den Haredim nicht."
Dass die Familie gemeinsam aus der orthodoxen Welt ausstieg und Mina und ihr Mann bis heute zusammenleben, ist nicht selbstverständlich. Er sei nicht ihr Traummann gewesen, erzählt Mina. Dennoch haben die beiden mit der Zeit so eng zusammengefunden, dass sie diesen Weg gemeinsam gegangen sind.
"Unsere Ehe wurde arrangiert, als ich 17 war. Ich hatte damals schon versucht, in die andere Welt zu blicken. Meiner Familie machte das Angst. Also haben sie mich schnell verheiratet, damit ich hier bleibe. Und anfangs brachte mich das tatsächlich von meinem Plan ab. Ich war wieder stärker religiös. Aber ich hatte nach wie vor viele Fragen und keine Antworten, denn wenn du fragst, schauen dich die Leute an, als ob mit dir etwas nicht stimmt, als ob du Probleme hättest. Aber ich habe gesehen, dass auch mein Mann nicht so streng war und nicht alle Gebote streng eingehalten hat. Ich habe mich gefragt: Warum machen wir das alles? Wenn es uns doch nicht zufriedenstellt! Nur weil wir so aufgewachsen sind? Dann habe ich begonnen, diese neue Welt zu erkunden und habe mich mit Aussteigern getroffen und im Internet gelesen."

Verloren in der säkulären Welt

Die Organisation Hillel berichtet, dass immer öfter ganze Familien aussteigen. Die Zahlen seien aber nach wie vor gering. Familie Karp ist vor eineinhalb Jahren nach Aschkelon gezogen, um hier neu zu beginnen. Sie leben in einem säkularen Viertel, gekocht wird längst nicht mehr koscher, im Wohnzimmer steht ein Computer und auch am Schabbat steigt die Familie ins Auto und macht Ausflüge. Mina trägt einen Kapuzenpulli und Jeans, man sieht ihr die haredische Herkunft nicht an. Doch es war ein schwerer Lernprozess, weiß Avi Neumann von Hillel:
"Wir sprechen hier von Menschen, die aus einer sehr isolierten Gemeinschaft kommen. Sie treten nun in diese weite, säkulare Welt. Sie kennen die Regeln nicht. Stell dir vor, du bist 26, hast vier Kinder, und zum ersten Mal in deinem Leben sitzt du abends in einer Bar. Du fragst dich: Ist meine Kleidung angemessen? Verhalte ich mich richtig? Du bist sehr verloren. Das hat auch Auswirkungen auf die Jobsuche. Denn es geht einerseits um praktische Fähigkeiten, andererseits um soziale und kommunikative. Und viele Charedim haben keine dieser Fähigkeiten."
Mina Karp bleibt derzeit für die Kinder zu Hause, ihr Mann arbeitet in seinem alten Job als Studienberater an einer religiösen Hochschule. Nach und nach müssen sie neue Kontakte knüpfen. Für die Kinder ist es in der Schule und im Kindergarten leichter. Mina hat über Facebook neue Freundinnen kennengelernt. Sie genießt die neu erlangte Freiheit und erfüllt sich nun einen lang ersehnten Traum:
"In zwei Wochen fliege ich mit zwei Freundinnen nach Berlin. Davon habe ich immer geträumt. Ich konnte bisher nicht. Bei den Charedim dürfen Mädchen höchstens für die Partnersuche, aus wirtschaftlichen oder gesundheitlichen Gründen wegfliegen. Jetzt würde ich am liebsten überall hin und die Welt entdecken. Natürlich kann ich nicht ständig unterwegs sein. Aber dieses Mal passt es und ich fliege mit zwei Freundinnen."
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