Ulrike Draesner: "doggerland"

Man meint, Tierhaut zu spüren

05:01 Minuten
Cover des Buchs "doggerland" von Ulrike Draesner.
Ein Grenzgang am Rande unseres Wissens: Ulrike Draesners "doggerland". © Deutschlandradio / Penguin Verlag
Von André Hatting · 09.11.2021
Audio herunterladen
In der Mittelsteinzeit war Doggerland, die einstige Verbindung zwischen Großbritannien und Skandinavien, dicht besiedelt und das Zentrum der Welt. Die preisgekrönte Lyrikerin Ulrike Draesner findet dort den Ursprung unserer Zivilisation und Sprache.
Dieses Buch ist außergewöhnlich. Wer es zum ersten Mal in die Hand nimmt, fühlt das sofort, denn man meint, Haut zu spüren, Tierhaut. Darauf sind Ausschnitte aus steinzeitlicher Höhlenmalerei abgebildet: Männer- und Frauenhände.
Das Äußere verweist damit auf das, was uns im Innern erwartet: ein Grenzgang am Rande unseres Wissens. Und unserer Klischees.
Doggerland ist das Gebiet am Zusammenfluss von Themse und Rhein, benannt nach einem niederländischen Fischkutter. Es war, schreibt Draesner, "Europas westliches Herz nach dem Ende der letzten Eiszeit".
Aber was war da los? Wir können es nur erahnen, so wie die Sprachwissenschaft vermutete ältere Formen erahnt, das heißt rekonstruiert.

Frauen jagen, Männer kochen

Im doggerland von Ulrike Draesner jagen (auch) die Frauen – warum sonst sollten sie ihre Handabdrücke an den entsprechenden Höhlenmalereien hinterlassen haben, was eine wissenschaftlich Tatsache ist? (Auch) Frauen zähmen Tiere. Und (auch) Frauen führen an. Manche Männer, die "man-men", bleiben dagegen "am feuer zu hause […] die rieben gern körner".
Kulturtechniken wie die Zähmung von Wölfen, das Glätten und Vernähen von Tierhaut, die Entdeckung, dass man auf Knochen Musik machen kann, gehen mit sprachlicher Evolution einher, die Ulrike Draesner aber nicht linear entwickelt, sondern, wie sie es nennt, "liminal", als Durchgangsstadium zwischen Deutsch und Englisch.

Evolution und Gewalt

Als die Dorfbewohner der Küste auf die des Binnenlands treffen, tauschen sie Worte, Wissen und Zärtlichkeiten aus. Aber in dieser neuen Gruppendynamik entsteht auch Gewalt:
hovering
Herz her so herrlich - over and over hurt
eine klitze verschiebung nur
: nutty
nobody : bye
und der anführer der jungen
der mit den zähnen (lingering
hungrig lungernd) lächelnd sieht
zu wie
: wir, we
blutig tritt
in den sand host
their f iend
r
r
r
r
Der Andere, eben noch ein friend, ein Erwecker des ic (Altenglisch für "I", also "ich"), des Selbstbewusstseins in Abgrenzung zu diesem Anderen, verliert sein Phonem /r/ in einem grafischen Decrescendo und wird zum fiend (Feind).

Mehrstimmiger Gesang

Draesners Langgedicht ist allerdings mehr als eine feministische Infragestellung der "gängigen mär" vom Leben in der Steinzeit. Es ist ein mehrstimmiger Gesang. Genau das macht das spektakuläre Format von doggerland aus.
Draesner lässt ihre Verse über das Leben unserer Vorfahren schwingen, aufgehängt zwischen deutschen Stich- und Reiz- und Echoworten am linken Seitenrand und englischen am rechten.

Wissenschaft und Kunst zugleich

Für ihren ersten Gedichtband nach dreizehn Jahren ist die Autorin tief in das "Flussnetz der Sprachen von einst" eingetaucht. Das Ergebnis ist ein gelehrter Band, der nicht belehrt, sondern bezaubert.
Karl Kraus hat einmal gesagt, Wissenschaft sei Spektralanalyse und Kunst Lichtsynthese. doggerland ist beides.

Ulrike Draesner: "doggerland"
Penguin Verlag, München, 2021
188 Seiten, 38 Euro

Mehr zum Thema