Ukraine

Warum Russland in Odessa keine Alternative ist

Blick auf die sogennante Passage in Odessa, einer überdachten Einkaufsmeile in der ukrainischen Stadt am Schwarzen Meer, aufgenommen am 03.07.2011.
Die Passage in Odessa ist eine überdachte Einkaufsmeile in der ukrainischen Stadt am Schwarzen Meer. © picture-alliance / dpa / Daniel Gammert
Von Thomas Franke  · 03.02.2016
In Odessa am Schwarzen Meer leben Ukrainer, Georgier, Türken, Juden - und Russen. Als der Krieg im Osten der Ukraine begann, gab es viele Sympathiebekundungen für Russland. Nun hat sich die Lage gewandelt. An vielen Orten der ukrainischen Stadt ist Aufbruch zu spüren.
Dunkelblauer Anzug, hellblaues Hemd, dunkelblaue Krawatte. Pawlo Klimkin, der Außenminister der Ukraine lässt seinen Blick über etwa 200 meist junge Menschen im Publikum schweifen. Die haben sich schön gemacht. Frauen in langen Kleidern, Jungs mit Bartflaum und Sakkos.
Der Außenminister ist auf Einladung vom Odessa Impact Hub hier. Einer Art Ideen-Schmiede und Treffpunkt als Teil eines globalen Netzwerkes mit 72 Standorten. Alexandr Slavski ist 31 Jahre alt, leitet den Odessa Impact Hub.
"Es ist kein normaler Tag. Ich leite nicht so oft Treffen mit Ministern. Leider. Oder zum Glück."
Die etwa 200 Zuschauer fragen den Außenminister nach der EU-Integration der Ukraine, nach der Freigabe der Schengen Visa. Die Menschen hier wollen die Anbindung an Westeuropa, das wird sehr schnell klar. Der Minister spricht Ukrainisch, auch wenn seine Muttersprache Russisch ist, wie bei den meisten hier. Und er lobt Odessa. Die Stadt sei schon immer etwas Besonderes gewesen.
Nach eineinhalb Stunden ein paar Selfies, Hände werden geschüttelt. Organisator Alexandr Slavski ist zufrieden:
"Ich denke, für den Minister Reklame zu machen, wäre nicht okay. Aber dass die Leute den Minister treffen und anfassen können, ist super. Zugänglich zu sein ist viel wichtiger als vieles andere, was das Ministerium oder der Staat tun."
Slavski möchte den Leuten zeigen, dass sie Politik beeinflussen können, im Kleinen und im Großen. Dass jeder Einzelne verantwortlich ist für den Staat und das Gemeinwesen. Junge Menschen, die etwas auf die Beine stellen wollen, zu unterstützen, ist das Ziel des Odessa Hub. Der Finanzier des Projektes möchte anonym bleiben. Derartige Aktivitäten hätten in der Ukraine einen schlechten Ruf, sagt Slavski. Zu oft hätten Unternehmer ihr soziales Engagement genutzt, um später gewählt zu werden und dann die politischen Ämter für noch mehr Geld und Macht zu missbrauchen.
Kekse für die Soldaten an der Front
"Gleich trage ich die Glasur auf. Das ist ein deutscher Ingwer-Lebkuchen. Ein traditionelles Rezept."
Oxana streicht den Gummischaber an der Schüssel ab. Sie trägt eine weiße Schürze über der Bäckerhose, die Haare hat sie mit einem Tuch verhüllt. Oxana ist Konditorin und backt Kekse für Soldaten, die an der Front in der Ostukraine verwundet wurden:
"Wir helfen alle mit. Man muss immer mit Liebe arbeiten. Gerade, wenn wir für die Verwundeten backen."
Olga Malzewa probiert einen Keks. Sie ist die Besitzerin des Cafés:
"Die Leute bringen uns regelmäßig Geld für die Zutaten. Andere Freiwillige holen die Ware ab und bringen sie hin. Das ist eine richtige Bewegung in Odessa. Gott sei Dank."
In Russland heißt es, Russen in der Ukraine seien bedroht, ihre Kultur und Sprache werde diskriminiert. In Odessa wird deutlich, dass das nicht stimmt. Café- Besitzerin Olga Malzewa:
"Ich bin von der Nationalität Russin. Wir sind Russen. Aber im Zuge der Ereignisse haben wir uns auf die ukrainische Seite gestellt. Wir leben in der Ukraine. Wir lieben sie. Meine Eltern sind zugereist, meine Mutter aus Saratow in Russland, mein Vater aus dem Gebiet Krasnodar. Sie haben Odessa liebgewonnen. Ich bin hier geboren."
Mit dem Backen für die Frontsoldaten hat sie nach der Kesselschlacht um Ilowajsk in der Ostukraine im August 2014 begonnen. Die Schlacht gilt als die größte Niederlage der Ukraine im Kampf gegen die russischen Kämpfer.
"Als der Krieg begann, hat eine Freiwilligenorganisation beschlossen, Socken für die Soldaten zu sammeln. Nur Socken. Denn die hatten keine. Und wir haben mitgemacht, hier war eine Sammelstelle. Mit den Socken hat es angefangen. Später haben die Leute Lebensmittel gebracht. Mehl für Brot und so etwas. Und wir haben uns gern darauf eingelassen."
Für ihr Engagement für die ukrainische Soldaten werden sie bedroht und angegriffen. Vor der Tür des Cafés ist eine Bombe explodiert. Niemand wurde verletzt. Malzewa zeigt auf die neue Metalltür.
"Wir haben Angst. Meine Schwester hatte die spontane Reaktion, wegzufahren, sich irgendwo zu verstecken. Aber gleich morgens kamen Leute, haben uns ihre Unterstützung angeboten, mit Geld und anderem. Und sie haben uns gebeten, unbedingt zu bleiben, nicht aufzugeben, das Café wieder herzurichten und es noch schöner zu machen. Die ganzen Tage im Staub haben uns die Leute unterstützt. Sie sind gekommen, haben Tee oder Kaffee getrunken, haben uns Mut zugesprochen und Geld hier gelassen. Das ist sehr wichtig. Und das gibt uns Kraft. Kraft, das alles zu ertragen. Denn es ist schrecklich. Schrecklich. Nun, es ist eben Krieg, was kann man machen."
Es war bereits die zweite Bombe vor ihrem Café, die erste konnte vor der Explosion entschärft werden. In den letzten Monaten sind immer wieder Bomben in Odessa explodiert. Sie sind aber offensichtlich nicht gebaut, um Menschen zu töten. Ihre Sprengkraft ist nicht groß, und in der Mehrzahl der Fälle fliegen keine Teile durch die Luft. Meist gelten die Anschläge Menschen, die sich offen gegen die Politik der russischen Regierung stellen. Die wollen sich aber nicht einschüchtern lassen.
Mit jedem Anschlag wächst die Solidarität
Die Solidarität wächst mit jedem Anschlag. Statt die ukrainische Gesellschaft zu spalten, eint es Ukrainer und ethnische Russen. So trafen sich Musiker, Künstler und Dichter gleich nach dem Bombenanschlag im Café, haben ein Konzert improvisiert, Geld gesammelt.
Dabei war auch der russischsprachige Schriftsteller Boris Chersonski. Auch er unterstützt die ukrainische Armee im Kampf gegen Russland:
"Es geht bei den Anschlägen darum, Anspannung zu erzeugen. Die Freiwilligen, die der ukrainischen Armee helfen, in Angst zu versetzen. Und auch bei den Nachbarn der Freiwilligen Angst zu erzeugen. Denn es leiden ja nicht nur die Gebäude, die unmittelbar angegriffen werden, sondern auch die Gebäude daneben. Da denken die Leute dann nicht mehr darüber nach, wer die Bomben legt, sondern über die, derentwegen das passiert. Das ist psychologisch wichtig."
Auch bei dem Schriftsteller Chersonski ist eine Bombe explodiert:
"Es war vor der Wohnung, in der ich offiziell gemeldet bin, aber nicht wohne. Also die Adresse, die im Internet und Adressbüchern steht. Dort hätten meine Ex-Frau, meine Kinder, verletzt werden können, die sich manchmal dort aufhalten, und meine Enkel. Aber zum Glück ist niemand zu Schaden gekommen. Das Gebäude wurde allerdings stark beschädigt. Die Reparaturarbeiten dauern immer noch an. In Odessa ist das leider fast schon Alltag."
Die Stadt hilft den Opfern, die Schäden zu reparieren.
Der nächste Tag. Alexandr Slavski, der Leiter des Odessa Impact Hub, ist eingeladen, mit jungen Leuten über Politik zu diskutieren. Sein hellblaues Hemd trägt er offen, Jeans, Turnschuhe. Zum Termin geht er zu Fuß, wie er es oft tut:
"Oh, ein guter Mensch, ein Held. Der hat am Zebrastreifen angehalten."
Die Gesetze zu achten, ist bis heute in der Ukraine nicht Alltag. Nahezu alle Bereich der Gesellschaft sind von Korruption durchdrungen, es gilt das Gesetz des Stärkeren beziehungsweise Reicheren. Die Menschen haben davon seit Langem genug. Nach gefälschten Wahlen demonstrierten 2004 die Bürger das erste Mal so lange, bis die Regierung aufgab. Es folgten jedoch erneut dubiose politische Gestalten, wie Julia Timoschenko.
Nach der relativ kurzen Zeit von zehn Jahren gingen die Leute im Winter 2013/2014 erneut auf die Straße. Diesmal wurde es härter. Es fielen Schüsse, es gab Tote, Russland besetzte die Krim und fachte einen Krieg in der Ostukraine an. Nun sei die Zeit der Demokratisierung der Ukraine, sagt Slavskis, und da möchte der 31-Jährige, dass möglichst viele Leute mitmachen:
"Es ist eine Zeit der Möglichkeiten, ganz klar. Man kann viel machen. Auch ist es jetzt viel einfacher, eine europäische Finanzierung zu bekommen als zum Beispiel vor zwei Jahren. Und auch die Politiker sind viel aufmerksamer.
Zwar empfinden viele diese Zeit als eine Zeit voller Schwierigkeiten, machen sich Sorgen, werden depressiv. Dabei ist jetzt die Zeit, etwas mit der Stadt zu tun, etwas in der Stadt zu tun."
Slavski geht durch einen verwilderten Park. Büsche überwuchern den Weg. Müll liegt rum. Dann stoppt er an einer verfallenen Theaterbühne:
"Hier kann man Millionen Sachen machen. Spielplätze bauen, aufräumen, Plätze anlegen und Bäume pflanzen - die Stadt verschönern. Das kann man genau jetzt machen. Man muss der Jugend jetzt Angebote machen, denn die sind jetzt dafür sehr empfänglich. Das ist übrigens ein Verdienst der Demonstrationen in Kiew auf dem Maidan. Es wollen einfach sehr viele Leute etwas tun."
Zivilgesellschaftliches Engagement auf allen Ebenen
Slavski erzählt von einem, der gesundes Essen populär machen möchte. Gesunde Lebensmittel sind in der Ukraine verhältnismäßig teuer. Er hat daraus eine Geschäftsidee entwickelt, indem er Obst und Salatportionen günstig verkauft. Andere fotografieren obdachlose Hunde und Katzen, stellen die Bilder auf Facebook, damit die Besitzer ihren Liebling wiederfinden können oder sich einen anderen aussuchen. Und sie machen Theater mit Behinderten und Flüchtlingen. Ein anderer fährt in seiner Freizeit mit dem Fahrrad durch die Stadt, spricht Autofahrer an, die besonders rücksichtslos parken oder fahren. Zivilgesellschaftliches Engagement auf allen Ebenen.
Slavski geht ein wenig bergab, einen Pfad entlang durchs Gebüsch und ist am Ziel. Das Gelände ist eingezäunt. In der Mitte ein Swimmingpool. Ein paar Leute stehen an einer Bar. Rundherum Verkaufsstände mit Eiscreme, veganen Sandwiches, T-Shirts. Liegeflächen. Junge Frauen in Bikinis und kurzen Sommerröcken, junge Männer in Leinenhosen oder Bermudashorts. Ein paar Stufen runter ist das Schwarze Meer. Slavski ist bereits zum dritten Mal dort eingeladen, um über Politik zu reden:
"Bei uns tragen die Hipster alle Bart, ich weiß nicht, wie das in Deutschland ist. Deshalb gibt es hier auch Pflegemittel für Bärte. Aber ich halte hier jetzt einen Vortrag über soziale Projekte, über Stipendien und Praktika. Das ist sehr seltsam. Verstehe gar nicht, dass die uns eingeladen haben. Ich glaube, die finden uns schräg. Denn alle verkaufen hier etwas und verdienen Geld. Wir aber halten einen Vortrag und verdienen dabei nichts. Für die sind wir wahrscheinlich Verrückte."
Slavski geht in einen Pavillon. Dort lümmeln etwa 20 Jugendliche auf Sofas und in Sesseln. Dann redet er zwei Stunden. Die Jugendlichen hören zu. Auch Katja und Vlad haben zwei Stunden zugehört. Katja ist 15 und möchte mal Psychologin, Vlad ist 16 und möchte Jurist werden:
"Mir hat gefallen, dass ich etwas über die sozialen Probleme in der Gesellschaft erfahren habe. Welche es gibt, wie man sie lösen kann, was man tun kann, um das Leben gerechter zu machen. Denn es gibt jetzt große Probleme in der Welt: Die Umweltverschmutzung, das Böse in der Gesellschaft, Intoleranz gegenüber anderen Religionen, das muss man alles ändern und ein 'richtiger' Mensch werden."
Im Pavillon sitzt Slavski und grinst. Er hat die Arme auf die Knie gestützt, sitzt leicht nach vorn gebeugt. Er wartet auf einen Freund und Kollegen:
"Wir müssen jetzt handeln, müssen Reformen umsetzen, uns ändern. Das Verhältnis zur Macht muss anders werden, transparenter. Die Korruption muss weniger werden – all das. Wir brauchen auch faire Wahlen. Denn je länger sich nichts ändert, desto größer ist die Gefahr, dass es scheitert. Außerdem ist die territoriale Integrität der Ukraine in Gefahr. Es passiert schon."
Es ist vielleicht die letzte Chance der Ukraine, sich von den korrupten Regimen der letzten 25 Jahre zu befreien und eine funktionsfähige Gesellschaft zu schaffen. Und wenn alles schief geht und die Reformer scheitern? Slavski schaut ernst:
"Das ist eine große Bedrohung. Aber es haben sich jetzt viele Leute in die Diskussion über Reformen eingemischt und arbeiten etwas aus, auch sehr viele Abgeordnete. Es hat da Veränderungen gegeben, viele Leute sagen ihre Meinung und kontrollieren die Politiker und die Reformen. Es geht nicht mehr, dass sich jemand einfach hinstellt und sagt: Sorry, es hat nicht geklappt. Die Regierung und das Parlament werden jetzt für alles, was sie machen, sehr viel kritisiert, und sie sind sehr empfänglich für diese Kritik. Sie haben keine Chance, keine Reformen zu machen."
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