Ukraine

"Durch dieses Feuer weitergehen"

Der Schriftsteller Jury Andruchowytsch
Jury Andruchowytsch © Deutschlandradio / Manfred Hilling
Juri Andruchowytsch im Gespräch mit Dieter Kassel · 13.05.2014
Keiner auf dem Maidan in Kiew habe absehen können, was die Proteste auslösen würden, sagt der Schriftsteller Juri Andruchowytsch. Er habe aber immer noch die Hoffnung auf eine geeinte Ukraine in der Zukunft.
Dieter Kassel: Das ist alles gar nicht lange her, die Demonstrationen auf dem Maidan in Kiew, bei denen viele, viele Menschen ihr Leben riskiert haben, nicht nur im übertragenen, sondern im wahren Sinne des Wortes, und bei dem sie dann Ende Februar im Prinzip ihr Ziel erreicht haben, den Sturz des Janukowitsch-Regimes, die Flucht des gehassten Präsidenten. Eine Revolution also, wenn man dieses Wort benutzen will, die erfolgreich war, bis ungefähr Ende Februar konnte man das uneingeschränkt so sehen.
Inzwischen, glaube ich, sehen das auch viele Menschen, die damals auf dem Maidan waren, nicht mehr ganz so, wir wissen alle, was in der Ukraine seitdem passiert ist und immer noch passiert. Wir wollen natürlich auch darüber, vor allen Dingen aber über die Ereignisse damals – das Wort klingt schon komisch bei etwas, was so kurz her ist –, damals auf dem Euromaidan, wie ihn inzwischen viele nennen, sprechen, mit Juri Andruchowytsch. Er ist einer der bekanntesten ukrainischen Schriftsteller und hat jetzt ein Buch herausgegeben, das diesen Titel trägt, "Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht". Das Buch kommt Anfang nächster Woche heraus, Juri Andruchowytsch ist aber jetzt schon bei uns zu Gast. Schönen guten Tag erst mal!
Juri Andruchowytsch: Guten Tag!
Kassel: Wenn Sie persönlich auch zurückblicken auf den Euromaidan, auf diese Monate von, sagen wir mal, Mitte/Ende November bis Ende Februar, hatten Sie damals das Gefühl, zumindest der größte Teil der Menschen, die da protestiert haben, die waren sich wirklich sicher, dass sie etwas fordern, dass sie etwas erreichen wollen, was gut ist für die gesamte Ukraine?
"Erste Protestwelle brutal zerschlagen"
Andruchowytsch: Ja, absolut. Das war die ganze Zeit diese Idee, dass die Leute auf dem Maidan auch zum Beispiel für die Leute im fernen Osten dort auf dem Maidan stehen, dass sie auch ihre Rechte und ihre bessere Zukunft dort verteidigen wollen. Und das war auch von dem allerersten Tag, als ich nach Kiew kam, und das war am 1. Dezember. Die Proteste dauerten schon eine Woche und dann in der Nacht auf dem 30. November wurde diese erste Protestwelle brutal zerschlagen, von der Polizei brutal zerschlagen, was eigentlich diese Millionendemo am 1. Dezember in Kiew verursacht hat.
Und an dem Tag habe ich mir ganz klar gedacht, dass das eigentlich das Ende des Regimes ist. Also, eine Million auf der Straße, wo alle absolut einig sind in der Idee, dass dieser Präsident und seine ganze Gruppierung jetzt weg müssen. Das bedeutet eigentlich, dass dieses Regime früher oder später beseitigt wird. Das war leider mit sehr vielen Opfern bezahlt und das dauerte ganze drei Monate, aber da kam nie eine Idee, dass die Antwort auf diese Änderung so ein separatistisches Projekt wird.
Kassel: Sie kommen ja selber aus einem Ort der Westukraine, waren zur Zeit der Revolution teilweise auf dem Maidan, teilweise aber auch mit einem Theaterprojekt, eigentlich einem Multimediaprojekt unterwegs in verschiedenen Orten.
Andruchowytsch: Genau.
Kassel: Aber Sie als Westukrainer, wie haben Sie denn zu Zeiten der Revolution und auch vorher auf die Ostukraine geblickt? War das immer ein völlig normaler Bestandteil Ihres Landes oder waren das für Sie doch Menschen, die Ihnen fremd waren?
Andruchowytsch: Natürlich ein Bestandteil der Ukraine. Maidan-Rhetorik war diese Rhetorik der Einigkeit, Einheit. Alle Politiker, die auf der Maidan-Bühne standen, die betonten das die ganze Zeit. Die Leute im Osten, wir sind auch für euch! Und sie wechselten auch die Sprache ziemlich oft in die russische, um diese Botschaften irgendwie noch näher zu machen. Und das war nie irgendwie so geglaubt, dass wir irgendwelche fremde Enklaven in unserem Land haben, von denen wir jetzt irgendwie weg müssen, oder dass das Land geteilt wird.
Also, auch zu diesem Theaterprojekt: Unsere Idee war, dass wir dieses Spektakel in allen Regionen der Ukraine veranstalten. Also, wir hatten solche Möglichkeit auch bei dieser Tour, verschiedene Städte zu sehen, zu erleben, und verschiedene Stimmungen auch. Wir waren in Odessa, wir waren in Saporischschja, also, das ist schon Süden und Ostsüden. Und keinesfalls gab es so eine Ahnung, dass wir jetzt in fremdem Land sind und dass wir so etwas Exotisches machen, das war überall wie zu Hause. Nur dass dieses Haus seine Probleme hat, dieses Zuhause ist sehr problematisch und kompliziert.
Kassel: Als Janukowitsch gestürzt wurde, als er flüchtete, dann plötzlich weg war Ende Februar, brach da in Ihnen ein Gefühl der Euphorie aus oder kam dann langsam doch die Frage, was kommt jetzt nach ihm?
"Situation im Lande doch sehr, sehr, sehr unterschiedlich"
Andruchowytsch: Am Freitag, glaube ich, 21. Februar, nachmittags, kam plötzlich eine falsche Nachricht, dass Janukowitsch um einen Rücktritt bittet. Und dabei gab es wirklich eine Weile Euphorie unter uns. Aber das hat niemand bestätigt und das wurde nicht bestätigt, und dann gab es wirklich diese Flucht in der nächsten Nacht eigentlich. Und dieses Gefühl nach der Nachricht war eigentlich eher voll von Überraschung, einfach Überraschung, das war keine Euphorie. Wir dachten alle, was soll das eigentlich bedeuten? Wir waren an diesem Tag, also diese Truppe mit unserem Theaterprojekt, wir waren gerade aus Kiew nach Soporischschja unterwegs, und da habe ich zum ersten Mal etwas in diesem Zug gehört, was die anderen Fahrgäste besprochen haben.
Und das waren die Leute aus dem Osten sozusagen, für die diese Nachricht irgendwie total katastrophal war. Wenn wir ganz wenig in der Lage verstanden, dann verstanden die anderen überhaupt nichts! Und ich habe das gehört: Na gut, na gut, er wohnt so in einer Villa, in so einem Palast, aber jeder Präsident in jedem Land hat so viel Reichtum, und in so einem Schloss kann er auch leben! Und ich verstand plötzlich, dass wir eigentlich sehr viel Arbeit für dieses Verständnis haben, dass diese Wahrnehmung der Situation im Lande doch sehr, sehr, sehr unterschiedlich ist.
Kassel: Wir reden heute Nachmittag hier im Deutschlandradio Kultur mit Juri Andruchowytsch, er ist der Herausgeber eines Buches namens "Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht", das Buch erscheint im Suhrkamp Verlag nächste Woche und es ist – ist schon schwer zu sagen! – ein Rückblick zum Teil, es ist aber auch eine Analyse des Euromaidans und seiner Folgen. Jetzt haben wir so viel – zu Recht, wie ich finde, Herr Andruchowytsch! – zurückgeblickt und Sie haben erzählt, wie Sie diese Zeit damals erfunden haben, schon wieder dieses damals, bei Ereignissen, die wenige Monate zurückliegen! Blicken wir doch jetzt mal nach vorne! Bei all dem, was – wir müssen es nicht aufzählen, von der Annexion der Krim bis zu den aktuellen separatistischen Bestrebungen im Osten des Landes –, nach all dem, was passiert ist, es stehen jetzt Wahlen an, Präsidentschaftswahlen am 25. Mai, wie blicken Sie auf die Zukunft? Konkrete Frage: Sind Sie optimistisch, dass eine Aufteilung der Ukraine zu verhindern ist?
Andruchowytsch: Ich hoffe immer noch, ja. Ich hoffe, dass die Wahlen am 25. vor allem resultativ werden, also, das ist sehr wichtig jetzt für die Ukraine, dass wir keinen zweiten Wahlgang bei dieser Wahl brauchen, sonst verlieren wir noch mehr Zeit.
Kassel: Aber Entschuldigung, wenn ich kurz unterbrechen darf: Aber schon jetzt sagen ja die selbst ernannten Führer der beiden Separatistengebiete im Osten, wo es auch diese Abstimmung nun am Sonntag gab, sagen, wir werden das nicht mal zulassen, dass die Wahlen bei uns stattfinden! Und ist es denn denkbar, dass im Osten eine Wahl anerkannt wird, die da, wenn auch nur aufgrund von Gewalt, überhaupt nicht stattgefunden hat?
"Eingeschüchtert und politisch sehr passiv"
Andruchowytsch: Ich hoffe doch, dass die Wahlen auch im Osten stattfinden. Insofern ich die Situation nach Umfragen, nach Antworten und Erzählungen von meinen Freunden weiß, ist dort die Mehrheit der Bevölkerung, die einfach jetzt zum großen Teil eingeschüchtert ist und politisch sehr passiv bleibt und sozusagen zu Hause, aber die kommen zu diesen Wahlen und die nehmen auch an diesen Wahlen teil, so hoffe ich! Ich kann mich auch natürlich irren, weil die Situation die ganze Zeit eskaliert. Jeder Tag kann irgendwie ganz qualitativen Unterschied in den Verhältnissen bringen, und hier steht vor allem natürlich die Frage der Gewalt auf dem Spiel. Sollten diese Prozesse gewaltlos sich entwickeln, dann ist das eine Situation. Wenn diese Gewalt kein Ende hat, dann natürlich können wir diese Probleme haben, dass die Wahlen im Donbass nicht stattfinden.
Kassel: Wir könnten noch tausend Sachen besprechen, das werden wir hoffentlich auch immer wieder tun bei unterschiedlichen Gelegenheiten, aber lassen Sie uns zum Schluss doch die Frage der Zukunft ein bisschen verbinden mit der Frage dieser jüngsten Vergangenheit, dem Euromaidan: Wenn Sie jetzt auf die aktuelle Lage blicken, das, was wir gerade besprochen haben und noch viel mehr, haben Sie dann manchmal das Gefühl, diese Revolution war vergebens?
Andruchowytsch: Nein, keinesfalls. Wir haben, wir als eine Gesellschaft haben eine unglaublich große und dramatische Bemühung gemacht, um dieser besseren europäischen Zukunft des Landes uns anzunähern. Und das alles mit ganzer Tragödie, mit allen Opfern, mit dieser Grausamkeit, auch mit diesem Schmutz, mit allem Schrecklichsten, was auch dabei passierte, alles das kann man schon nicht wegstreichen. Das ist ein Teil unserer neusten Geschichte, nachdem wir schon wieder anders sind als zuvor. Das musste, das musste man erleben und durch dieses Feuer weitergehen.
Kassel: Dieses Feuer unter anderem auch mit Blick auf die Zukunft ist Thema des Buches "Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht". Juri Andruchowytsch ist der Herausgeber des Buches, das am Montag erst im Suhrkamp Verlag erscheint. Bis Montag wird wahrscheinlich auch in der Ukraine noch viel passieren, hoffentlich nicht nur Schlechtes, Herr Andruchowytsch, das wünsche ich mir sehr! Und ich danke Ihnen sehr für das Gespräch!
Andruchowytsch: Vielen Dank, danke schön!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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