Überwach, misstrauisch und streitlustig

Von Jochen Stöckmann · 14.03.2007
Der französische Philosoph André Glucksmann, der im Juni seinen 70. Geburtstag feiert, blickt in "Wut eines Kindes, Zorn eines Lebens" auf ein bewegtes Leben zurück. Seine Abrechnungen mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts machten ihn zu einem der führenden französischen Intellektuellen. Viele Weggefährten haben ihm allerdings die radikale Abkehr vom Kommunismus nicht verziehen. Im Literarischen Salon in Hannover stellte er sein Buch vor.
Kurz nach dem Krieg besuchen die Rothschilds 1945 das von ihnen errichtete Pariser Heim für gerettete Kinder. Plötzlich schnürt ein Junge seinen Schuh auf und schleudert ihn auf die Wohltäter. Es war André Glucksmann, der da seiner kindlichen Wut freien Lauf ließ. Als Sohn einer österreichisch-jüdisch¬kommunistischen Familie hatte er bereits eine Emigration nach Frankreich, ein Leben mit zwei Identitäten und eine Rettung vor der Deportation noch auf dem Bahnsteig hinter sich.

Aus der Wut des kleinen Jungen ist der Zorn eines Lebens geworden, die Biografie eines Philosophen, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, Ideologien aller Art - nicht zuletzt jenen eines falschen Friedens - den Fehde-Schuh hinzuwerfen. Seine Abrechnungen mit den Totalitarismen des 20. Jahrhunderts haben Glucksmann zu einem der führenden französischen Intellektuellen gemacht. Viele Weggefährten haben ihm die radikale Abkehr vom Kommunismus nicht verziehen und ihn einen linken Renegaten genannt. »Aber die Philosophie«, schreibt Glucksmann in seinen jetzt auf deutsch erschienenen Erinnerungen, »ist weder links noch rechts«.

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Seiner Biografie gibt der heute 70-jährige Publizist und Philosoph nicht umsonst den Titel "Wut eines Kindes, Zorn eines Lebens". Denn wie Voltaires Candide irrt André Glucksmann, genannt "Jojo", durch die Nachkriegswelt. Allerdings liest und denkt sich dieser Junge schnell in Rage. Und fällt deshalb nicht mehr unbedarft herein auf die Versprechungen eines Lehrers wie Pangloß, der - als Verkörperung von Leibniz und ganz in der Art deutscher Philosophen - "die beste aller Welten" verspricht. In Voltaires Aufklärungssatire erkennt Glucksmann mehr als nur einen Roman:

" Die Literatur ist französische Philosophie. Deutsche Philosophie sucht die Ordnung der Welt. Die Franzosen richten aber ihr Denken nicht auf Ordnung, sondern auf das Chaos, besonders auf das Böse. Und so entdeckt Candide, gegen die Verheißungen des Meisters Pangloß, die Brutalität, die blutige Seite der Geschichte, der Welt. "

Später dann, als Student in Paris, wird Glucksmann in einem Pamphlet auch gegen Hegel und Konsorten zu Felde ziehen, gegen alle "Meisterdenker", die der orthodoxen Linken als philosophische Hausgötter dienen und ein sanftes Ruhekissen garantieren. Für einen faulen Frieden schauen kommunistische Funktionäre über Stalins Straflager hinweg, unterstützen gar de Gaulles Krieg gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung.

Glucksmann schaut hin, liest aufmerksam Solschenizyns Bericht über den Archipel Gulag und stellt 1975 den Zusammenhang her zwischen Staat, Marxismus und Konzentrationslager. "Köchin und Menschenfresser" ist der Titel seines Buches, das nicht nur die Pariser Intellektuellenszene kräftig durcheinanderwirbelt. Fortan gilt der Philosoph als Begründer der sogenannten "Antitotalitären", die sich für humanitäre Aktionen engagieren, oftmals gegen die "guten Gründe" staatsmännisch zurückhaltender Diplomaten. Gegen die vorgeblichen Sachzwänge der Realpolitiker setzt Glucksmann auf gesellschaftliche Moral und individuelles Gewissen. Und auf Literatur, die traumatisierten Holocaust-Überlebenden oder dem politischen Untergrund im Ostblock eine Stimme geben kann. Selbst wenn ein Autor wie Jonathan Littell dieser Tage in seinem Erfolgsroman einen SS-Offizier der mörderischen Einsatzkommandos als Ich-Erzähler auftreten lässt, kommt auch das Glucksmanns unsentimentaler Weltsicht nur entgegen:

" Warum begibt sich Littell in die Haut eines Nazischergen? Weil er für eine humanitäre Organisation jahrelang in Tschetschenien gearbeitet hat – und den Terror gesehen hat, mit dem die russische Armee dort regiert. Deshalb kommt er zu dem Schluss, dass der Typus des Nazis keine Frage der Vergangenheit ist und auch keine allein deutsche Angelegenheit. Das steckt in jedem, diese unerhörte Brutalität. "

Auch nach dem Ende des Kalten Krieges sind die "Krieger" geblieben, konstatiert der weitgereiste, mit Katastrophengebieten und Bürgerkriegsschauplätzen vertraute Zeitungskommentator. Daneben richtet der Menschenrechtsaktivist den Blick auch auf die französischen Gefängnisse, wo immer noch Attentäter der terroristischen "action directe" einsitzen. Einige waren einmal Genossen, als Glucksmann seine kurze, aber durchaus heftige Liaison mit dem Maoismus durchlebte:

" Heute sind das bedauernswerte Leute, gefesselt an eine Vergangenheit, die sie glorifizieren. Das wird ihre Amnestie kaum befördern. Als 68er sage ich: Um den Versuchungen des Terrorismus zu begegnen, müssen wir über seine Entstehung im 19. Jahrhundert nachdenken. "

Glucksmann selbst hat einen anderen Weg gefunden als den sogenannten "bewaffneten Kampf". Zusammen mit Michel Foucault organisierte er in den Siebzigern ein historisches Treffen beim Staatspräsidenten: Auf den Stufen des Elysee-Palastes gaben sich damals Raymond Aron und Jean-Paul Sartre die Hand, um gemeinsam etwas für die vietnamesischen "boat people" zu tun:

" Um Menschenleben zu retten, gingen Aron und Sartre aufeinander zu, überwanden 25 Jahre ideologischer Grabenkämpfe von rechts gegen links, proamerikanisch gegen prosowjetisch. "

Seither gibt es für Glucksman Wichtigeres als die simple Aufteilung in links und rechts. Er zieht die Trennlinie mit der Frage "totalitär oder antitotalitär, Parteigänger der Freiheit oder Mitläufer einer Gewaltherrschaft?" Und bezieht also im aktuellen Präsidentenwahlkampf öffentlich Position für Nicolas Sarkozy, den Kandidaten der bürgerlichen Rechten. Denn Sozialisten und Sozialdemokraten im Westen traut Glucksmann, einstiger Jungkommunist und '68 ein militanter Linker, nicht mehr. Insbesondere ihr pfleglicher Umgang mit Wladimir Putin, dem Zarennachfolger im Kreml, stimmt den freigeistigen Wechselwähler skeptisch. Und der Philosoph bezieht sich dabei auf eine der großen Journalistinnen, denen er in seinem Buch eine Eloge widmet:

" Anna Politkowskaja hat über Korruption in Russland geschrieben, auch aus Tschetschenien. Denn sie wusste, dass das Schreckensregime der russischen Armee ein warnendes Vorzeichen an die Russen war: Das droht euch, wenn ihr dem Kreml nicht gehorcht!"

Die in Moskau ermordete Reporterin ist ein Vorbild geworden für den einstigen Medienintellektuellen, der an der Seite eines Bernhard-Henri Levy das Pariser Aktualitäten-Karussell meisterlich zu bedienen und zu dirigieren verstand. Mittlerweile ist André Glucksmann skeptisch geworden, schaut im Rückgriff auf Plato und auch Heidegger lieber hinter die Schatten der hektischen Bilderwelt:

" Fotos zeigen Dramen, laufen aber Gefahr, diese Dramen zu verewigen, nichts anderes als die Katastrophe zu zeigen. Aber Menschen, die der Katastrophe widerstehen, verhalten sich unspektakulär, sind nicht weiter sichtbar."