Übersetzerin Anne Birkenhauer

Die alten Zeiten sprechen mit

Die Übersetzerin Anne Birkenhauer überträgt Literatur aus Israel ins Deutsche.
Die Übersetzerin Anne Birkenhauer bringt israelische Literatur ins Deutsche, zum Beispiel David Grossmanns Roman "Eine Frau flieht vor einer Nachricht" © dpa / picture alliance / Carmen Jaspersen
Von Gerald Beyrodt · 29.01.2016
Die Übersetzerin Anne Birkenhauer lebt in Jerusalem und bringt israelische Literatur ins Deutsche. Zurzeit hat sie eine Berliner Gastprofessur für Poetik der Übersetzung inne. Sie erklärt, wie man die vielen biblischen Anspielungen in der hebräischen Sprache deutschen Lesern vermittelt.
Unvermittelt tauchen sie auf − Wörter, Sätze und Versatzstücke aus der hebräischen Bibel. Die israelische Literatur ist voll davon. Das gilt auch und gerade für Autoren, die nicht religiös sind. Für deutsche und europäische Leser sind diese Anspielungen schwer zu verstehen. Zum Beispiel in einem Gedicht von Chayim Nachman Bialik, der heute als israelischer Nationaldichter gilt. 1873 wurde er bei Schitormir in der heutigen Ukraine geboren.
"Keinem habe ich das Licht gestohlen, es fiel mir auch nicht zu wie ein Erbe von meinem Vater, allein aus meinem Fels und Gestein habe ich es geklüftet und aus meinem Herzen geschlagen."
Das Licht steht für die Originalität eines schreibenden Ichs. Seine Ideen hat es von nirgendwo anders, schon gar nicht von seinem Vater.
"Es klingt also wirklich wie die Autonomie-Erklärung eines Autors",
... sagt die Übersetzerin des Gedichts, Anne Birkenhauer. Bialik gehörte zur ersten Generation von Schriftstellern, die es wagten, auf Hebräisch zu schreiben. Bis dahin galt Hebräisch als heilige Sprache − als Sprache, in der man die Bibel las, aber nicht selber schrieb. Wie viele seiner Generation hat Bialik in seiner Jugend eine Talmudschule besucht, sich jedoch von dieser orthodoxen Welt gelöst.
Anne Birkenhauer: Hebräische Literatur ist mehrstimmig
In Bialiks Gedicht wimmelt es von biblischen Anspielungen: So ist der "Fels" in der hebräischen Bibel eine häufige Bezeichnung Gottes, deutschen Lesern vielleicht aus Kirchenliedern bekannt. Und das Wort "geklüftet" hat Bialik aus dem Wort für Felskluft abgeleitet − in der Bibel ein Ort von hoher Symbolkraft, sagt die Übersetzerin Anne Birkenhauer:
"Wo Moses auf dem Sinai war, um die Tora zu empfangen und das Volk das goldene Kalb gebaut hat, wie er das erfährt, bittet er Gott, dass er sich ihm zeigt, dass er nicht nur mit ihm spricht, sondern dass er irgendwas zu sehen kriegt. Und Gott sagt ihm: Kein Mensch kann mich sehn und leben, und rückt dann den Moses in eine Felskluft, so dass Moses ihn von hinten sehen kann. Und Moses sagt dann hinterher, ich hab ihn von Angesicht zu Angesicht gesehen, obwohl er Gott nur von hinten gesehen hat. Das ist einer der dramatischsten Momente in jüdischer Wahrnehmung, weil sich da Gott und Mensch so nahe kamen wie dann nie mehr."
Wenn es in Bialiks Gedicht heißt "allein aus meinem Herzen habe ich es geklüftet", dann demontiert das Gedicht seine eigene Aussage. Das lyrische Ich, das behauptet, seine Einfälle nur aus sich selbst heraus zu schöpfen, hat keine eigenen Worte, sondern nur die der hebräischen Bibel.
"Damit wird es von einem langweiligen romantischen Gedicht, wo der Autor sich zu den Quellen seiner Inspiration bekennt, ja, wo es viele gibt, die in dieser Zeit so geschrieben wurden, zu einem höchst komplexen Gedicht, was 'n doppelten Boden hat."
Die hebräische Literatur sei mehrstimmig, sagt Anne Birkenhauer. Neben der Stimme aus der Gegenwart des Autors mischten sich Stimmen aus der Bibel und aus dem Talmud in den Text. So könne ein hebräisches Gedicht auf kurzem Raum eine Sache behaupten und gleichzeitig das Gegenteil ausdrücken.
Die biblischen Anspielungen sind für deutsche und überhaupt für europäische Leser nur bedingt zugänglich. Beim Wort Fels denken europäische Leser, wenn überhaupt an Religion, an Petrus, der für Jesus Fels seiner Kirche sein soll. Die Geschichte von Moses in der Felsklüftung ist für europäische Leser keine Kernerzählung. Sie kennen eher den brennenden Dornbusch. Bis heute verstünden Leser des hebräischen Oringaltextes biblische und talmudische Anspielungen sehr viel genauer als Leser von Übersetzungen etwa ins Deutsche.
Der Grund: Israelis gingen mit der Bibel und der nachfolgenden rabbinischen Literatur völlig anders um als europäische Leser. Während man in Deutschland die Lutherübersetzung der Bibel immer wieder aktualisiert, korrigiert und revidiert hat, lesen Juden immer noch den Urtext der hebräischen Bibel und des Talmuds.
Anne Birkenhauer: "Sie lernen nicht im stillen Kämmerlein, sondern sie sitzen im Lehrhaus zusammen in Zweiergrüppchen und lernen Texte, die seit dem ersten, zweiten Jahrhundert so diskutiert wurden, bis heute. Sie lernen diese uralten Diskussionen über bestimmte Fragen, was den Schabbat angeht oder sonstwas und versetzen sich in die Lage der Leute , die das vor 2000 Jahren diskutiert haben. Und lernen das, dann sitzt Rashi mit am Tisch, aus'm zehnten Jahrhundert der große Kommentator, genauso wie irgendwelche Rabbinen aus'm ersten und zweiten Jahrhundert. Sie lernen die richtig persönlich kennen, dadurch, dass sie ihre Diskussionen lesen und weiter diskutieren.
Im Judentum seien Übersetzungen bestenfalls Hilfsmittel, im Christentum werde der Originaltext regelrecht überschrieben. Denn Christen hätten das Bedürfnis, den biblischen Text in die Gegenwart zu holen, die Patina alter Übersetzungen zu entfernen, immer neue revidierte Ausgaben zu schreiben.
Das Bedürfnis nach Aktualisierung gebe es im Judentum durchaus. Doch dafür müsse man nicht den Bibeltext aufpolieren. Dem trage die mündliche Tora Rechnung. Nach jüdischer Vorstellung hat Moses am Berg Sinai neben der schriftlichen Tora auch die mündliche erhalten, sozusagen die Ausführungsbestimmungen. Die mündliche Tora leiste die Übertragung der Bibel in die jeweilige Gegenwart.
Die Sprache des Gebets − oder von Popbands
2000 Jahre lang haben Juden die Bibel und die nachfolgenden Texte im Original gelesen. Hebräisch war eine Sprache des Gebets. Nicht alle säkularen Israelis beherrschen noch die Sprache der Bibel.
"Das Bildungssystem heute, das weltliche Bildungssystem, ermöglicht es, dass Schüler Abitur machen, die eigentlich einen Bibeltext nicht mehr wirklich lesen können. Das kann durchaus sein heute. Leute, die ein literarisches Verhältnis zur Sprache haben, haben in der Regel diese verschiedenen Sprachschichten und ihre Texte gelernt und verwenden sie. Also, es gibt sehr, sehr viele sehr säkulare Israelis, die einen Wortschatz haben, der aus diesen Texten stammt. Denn das ist der Sprachschatz, den wir haben, das ist wie auf Deutsch Goethe dazu gehört, ja, oder früher mal dazugehört hat." (lacht)
Besonders orientalische Juden pflegen ihre Traditionsliteratur sehr. Popbands singen die Dichtungen von mittelalterlichen Rabbinen. Pijutim nennen sich solche dichterischen Teile des jüdischen Gottesdienstes. Das Wort PIjut stammt vom griechischen poiesis, also Poesie.
Anne Birkenhauer: "Es war zur Zeit dieser Widerstandsbewegung gegen die enormen Lebenshaltungskosten in Tel Aviv, und es war so etwas eine aufmüpfige Stimmung, dann kommt einer von denen auf die Bühne und singt einen Pijut von Ibn Gabirol, der beschreibt, wenn ich zu meinem Herrscher geh, wie der mich dann behandelt. Es war ein umwerfendes politisches Statement, ja. Und diese Texte von früher haben einfach so eine Relevanz und sie sind poetisch so schön, dass man aus zwei, drei Zeilen genug Material hat für ein halbes Konzert hat, so ungefähr. Das ist wirklich sehr eindrücklich."
Das stärkere Wissen um die Bibel und die spätere religiöse Literatur hat vor allem die Konsequenz: Israelische Schriftsteller können mit einzelnen Wörtern beim Leser präzise eine biblische Begebenheit aufrufen, wie etwa in einem Gedicht von Dan Pagis. Dieser Autor wurde 1930 in der Bukowina im heutigen Rumänien geboren, musste in der Schoa mehrere Konzentrationslager erleben, emigrierte nach Israel. Sein Gedicht heißt "Das Porträt".
Der Junge
sitzt nicht still
Ich treffe nur schwer die Linie seiner Wangen.
Ich zeichne eine Linie,
und sein Gesicht kriegt immer mehr Falten,
ich tauche den Pinsel ein,
und seine Lippen erschlaffen, sein Haar wird weiß,
die Haut wird blau und schält sich von den Knochen. Er verschwindet.
Der Alte verschwindet, und ich,
wo soll ich hin?
Die Frage: "Und ich, wo soll ich hin?" taucht bereits in der Bibel auf.
Anne Birkenhauer: "Und das ist die Frage, die Ruven stellt, als seine Brüder Josef verkauft haben. Und Ruwen kommt an das leere Loch und fragt: Wo soll ich jetzt hin? Wie kann ich das je gegenüber meinem Vater verantworten. Das ist eine Frage totaler Verzweiflung. Das muss man auf Deutsch dazu sagen, wenn da steht: Und ich, wo soll ich hin? Und das ist ein ganz moderner Autor."
Mit Hilfe der Lutherbibel jüdische Traditionsliteratur verdeutlichen
Nicht immer lassen sich die biblischen Anspielungen so ins Deutsche übertragen, dass hiesige Leser sofort wissen, was gemeint ist. Erstaunlich oft greift Anne Birkenhauer auf Wortformen aus der Lutherbibel zurück, um zu zeigen, dass in einem Text jüdische Traditionsliteratur mitspricht, wie zum Beispiel in einem Gedicht von Uri Zvi Grinberg aus dem Jahr 1924. Grinberg gehörte wie Bialik zu der Generation von Autoren, die das Hebräische als neuer Sprache für sich erst entdecken mussten:
"Wie eine Frau, die weiß, wie mächtig ihr Zauber auf mich wirkt,
spottet mein Gott: So flieh doch, wenn Du kannst!
Und ich kann nicht fliehn.
Und ob ich schon flüchtete in verzweifelter Wut
und zischelte im Feuer den Schwur:
"Ich will ihn nicht mehr sehn!"
kehr ich zu ihm zurück
und klopf an seine Tür,
wie ein Liebender, leidend.
Anne Birkenhauer: "Das ist erst mal auf Hebräisch geschrieben für 1924 ein sehr unverschämtes Gedicht, wenn man überlegt, dass zehn, zwanzig Jahre vorher das Hebräische eine heilige Sprache war, und jetzt wird in diesem Gedicht Gott mit einer Frau verglichen, die mit den Gefühlen eines Mannes spielt, der ihr verfallen ist. Das ist schon eine enorme Provokation, und so liest sich dieser Text erst mal auch auf Hebräisch."
Doch das Gebet hat einen Subtext: Es zitiert ein bekanntes mittelalterliches Gebet des jüdisch-orientlischen Gelehrten Salomo Ibn Gabirol, ein Gedicht, das vom Vertrauen auf Gott handelt:
Und wenn Du mich tötest - ich hoffe auf Dich,
fragst Du nach meiner Schuld, flieh ich vor Dir zu Dir
und berge mich vor Deinem Zorn in Deinem Schatten.
Doch Ibn Gabirol ist deutschen Lesern in der Regel kein Begriff. Anne Birkenhauer bringt den Thema des Gottvertrauen mit Hilfe eines biblischen Textes in das Gedicht.
"Ich habe da in die zweite Strophe einen Rhythmus eingebaut, der von woanders herkommt. das ist die Strophe "und ob ich schon flüchtete in verzweifelter Wut und zischelte im Feuer den Schwur, ich will ihn nie mehr sehen". Das erinnert vielleicht manchen an: "Und ob ich schon wanderte im finsteren Tal fürchte ich kein Unglück, du bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich." Und habe so versucht, dem deutschen Leser, diese Polyphonie zu geben, dass er spürt, in diesem Gedicht, was so tut, als es wenn es gar nichts mit Gott zu tun haben will, gibt es noch einen anderen Ton."
Nicht jede religiöse Zitat lasse sich deutschen Lesern vermitteln. Oft seien längere Kommentare nötig, die eine Übersetzung nicht leisten könne. Aber mit Worten und Versatzstücken aus bekannten Bibelübersetzungen lasse sich zeigen: Hier sprechen alte Zeiten mit.
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