Überraschung im Land von Dschingis Khan

Von Ruth Kirchner · 29.05.2012
In der unwirtlichen Wüste Gobi in der Mongolei gibt es jahrhundertealte Reste eines riesigen Schutzwalls. Ein britischer Forscher fand jetzt heraus: Es handelt sich um Teile der Großen Chinesischen Mauer. Das könnte Ängste vor Gebietsansprüchen der Chinesen schüren.
Fast drei Tage lang fuhren der britische Forscher William Lindesay und sein Team durch die unwirtliche Wüste Gobi. Von der Hauptstadt Ulan Bator aus ging es immer Richtung Süden, insgesamt 600 Kilometer, größtenteils durch wegeloses, unbewohntes Gelände. Erstmals hatte die mongolische Führung einem Forscherteam erlaubt, in das Sperrgebiet an der chinesischen Grenze zu fahren. Streckenweise kamen die beiden Geländewagen – mit rund 230 Litern Trinkwasser an Bord - nur im Schritttempo voran. Doch die Strapazen lohnten sich. Knapp 40 Kilometer vor der Grenze wurde Lindesay endlich fündig. In der brennenden Mittagssonne stießen er und seine sechs Mitstreiter auf einen gewaltigen Erdwall.
"Wir kamen an einem Bauwerk an, das mindestens drei Meter hoch war. Ich war total aufgeregt. Dies war nicht nur einfach eine Mauer. Ich dachte sofort, dies sieht aus die die Chinesische Mauer aus der Han-Zeit auf der anderen Seite der Grenze."
Lindesay ist sich absolut sicher: die Mauerreste gehörten einst zur Großen Chinesischen Mauer, die vor rund 2100 Jahren nach den Feldzügen des Kaisers Han Wudi als Schutz vor den Angriffen der Nomadenstämme aus dem Norden gebaut wurde. Die mongolische Mauer passe wie ein Puzzle-Stück zur chinesischen Mauer, sagt der Brite, der in Peking lebt und seit 25 Jahren die Große Mauer erforscht. Anders als die Große Mauer auf der chinesischen Seite hat der mongolische Schutzwall zwar keine Wachtürme, aber das tut Lindesays Theorie keinen Abbruch.
"Ich vermute, dass die Mauer gar nicht fertig gebaut wurde, sondern wieder aufgegeben wurde. Das kann mit der Nutzlosigkeit des Landes in der Region zusammenhängen. Hier gab es keine Handelswege, keine Oasen, es war unmöglich hier Truppen zu stationieren, die sich selbst versorgen konnten."
Auf mongolischen Landkarten hatte Lindesay den Schutzwall in der Wüste schon vor Jahren entdeckt – dort ist er als "Mauer des Dschingis Khan" verzeichnet. Doch dass die Mongolen diese Mauer errichtet haben könnten, hält Lindesay für ausgeschlossen.
"Sie waren Eroberer, keine Verteidiger. Sie waren ein Nomadenvolk und haben traditionell keine festen Anlagen gebaut. Außerdem war damals die Mongolei so wie heute nur dünn besiedelt. Sie hätten gar nicht genügend Leute gehabt um so einen Wall zu bauen – das wäre unmöglich gewesen."
In Labors in New York haben er und seine Leute die Baumaterialen der mongolischen Mauer untersuchen lassen – und erlebten eine Überraschung. Die Proben wurden auf das elfte und zwölfte Jahrhundert datiert – als die Region zum Königreich der Westlichen Xia gehörte. Lindesay hält trotzdem an seiner Puzzle-Theorie fest – die Xia hätten die alte Han-Mauer aus der Zeit vor Christi Geburt vermutlich wieder aufgebaut, glaubt er. Weitere Forschungen seien nötig.

"Die Große Mauer ist ein gemeinsames Kulturerbe von China und der Mongolei. Die Chinesen sind stolz auf ihre Große Mauer, und die Mongolen sind stolz darauf, dass die Chinesen eine Mauer für sie gebaut haben."