Über einen unverbesserlichen Müßiggänger

Rezensiert von Maike Albath · 05.09.2005
In seinem neuen Roman bürstet der 1975 in Irland geborene Paul Murray das traditionsreiche Genre des Entwicklungsromans gegen den Strich. In "An Evening of Long Goodbyes" landet der Held, ein wohlhabender junger Ire, schließlich in der Gosse, ohne etwas dazuzulernen. Ein Unterhaltungsroman mit ironischem Tiefgang.
In seinem neuen Roman bürstet der 1975 in Irland geborene Paul Murray das traditionsreiche Genre des Entwicklungsromans gegen den Strich. Denn in "An Evening of Long Goodbyes" landet der Held, ein wohlhabender junger Ire, schließlich in der Gosse. Ein Unterhaltungsroman mit ironischem Tiefgang.

"An Evening of Long Goodbyes" ist ein Entwicklungsroman der besonderen Sorte. Im Mittelpunkt steht Charles Hythloday, ein verwöhnter junger Ire, der genussvoll den Lebensstil eines Landedelmannes zelebriert. Er ist ein Connaisseur des Müßiggangs. Sein Ehrgeiz beschränkt sich auf die Wahl der richtigen Garderobe, den Verzehr opulenter Mahlzeiten, zubereitet von der bosnischen Haushaltshilfe Mrs P., und die Verkostung zahlloser Weine aus dem Bestand seines verstorbenen Vaters. Zwischendurch gibt sich Charles seiner Leidenschaft für alte Hollywoodfilme hin und träumt von dem Projekt einer Gene-Tierney-Monographie. Das Maximum an Aktionismus ist erreicht, wenn er einen Spaziergang über den weitläufigen Familienbesitz unternimmt. Bereits die Beaufsichtigung der Bauarbeiten eines Turms, den er eigenhändig in Auftrag gegeben hat, um das Ambiente herrschaftlicher zu gestalten, überfordert den stets etwas schläfrigen Snob.

Paul Murray schreibt seinem Helden eine weitschweifige Erzählweise auf den Leib, die zu dem Charakter des selbstzufriedenen Herrenhausbewohners passt. Man hat sofort einen näselnden, weißhäutigen Aristokraten vor Augen: ironisch, weltläufig und nie um ein Aperçu verlegen. Aber der Gestus des eleganten Understatements gerät ins Wanken, als sich Charles’ Schwester Bel in sein Leben einmischt. Zuerst holt sie einen Liebhaber mit proletarischen Manieren ins Haus. Umgeben von Stilmöbeln, Samtvorhängen und Silberbesteck öffnet Frank, so heißt der vierschrötige Bursche, laufend Bierdosen und tritt Charles mit den Worten "Alles paletti, Kumpel?" gegenüber.

Bel, die eine Ausbildung als Schauspielerin absolviert hat, wirft ihrem Bruder Nichtsnutzigkeit und Alkoholismus vor. Um sie gnädig zu stimmen, besucht Charles mit dem frischgebackenen Liebespaar ein Hunderennen, bei dem sie auf ein Tier namens "An Evening of Long Goodbyes" setzen und prompt verlieren. Der kleine Misserfolg wirkt wie ein Donnergrollen kurz vor einem Gewitter, denn kurz darauf stellt sich heraus, dass die Familie längst nicht so reich ist, wie die Geschwister vermuteten. Es hagelt Drohbriefe, Gläubiger fordern Zahlungen ein, die Bank will den Besitz verpfänden. Zu allem Überfluss legt auch noch die sonst so verlässliche Perle Mrs P. eigentümliche Gewohnheiten an den Tag: Sie geistert mitten in der Nacht durch den Park, Möbel verschwinden, die Lebenshaltungskosten steigen ins Unermessliche.

In seiner alkoholumnebelten Ratlosigkeit wendet sich Charles an einen Privatdetektiv, der zu einem Versicherungsbetrug mit vorgetäuschten tödlichen Folgen rät: Charles soll den halbfertigen Turm in die Luft sprengen und sich nach Chile absetzen. Dieser erste dramaturgische Knotenpunkt ist der Startschuss für eine regelrechte Explosion des Romangebildes. Von nun nehmen die Verwicklungen kein Ende, und wie es sich für einen Erziehungsroman gehört, muss Charles eine ganze Serie von Bewährungsproben überstehen.

So wie sich Charles mit der Etikette auskennt und weiß, zu welchen Gelegenheiten ein Smoking das angemessene Kleidungsstück ist, so beherrscht Paul Murray die Kunst des Slapsticks und der komischen Übersteigerung im Stile Monty Pythons. Zugleich bürstet der 1975 in Irland geborene Murray das traditionsreiche Genre des Entwicklungsromans gegen den Strich. Denn natürlich gelangt der unverbesserliche Landedelmann mitnichten zu sittlicher Reife. Zwar landet er im Armenviertel von Dublin und wird mit den kruden Manieren des Plebs konfrontiert, aber von einem tiefgreifenden Wandel seines Wesens oder einem Zugewinn an Erkenntnis kann nicht die Rede sein.

Seine Komik gewinnt "An Evening of Long Goodbyes" immer wieder aus der Inkongruenz der Wahrnehmungsweisen: So hält Charles einen Obdachlosen für den Portier eines zerfallenen Mietshauses und vertraut ihm sein Gepäck an, in der Annahme, er würde es ihm hinterher tragen. Mitunter läuft der Roman Gefahr, an Murrays Einfallsreichtum zu ersticken und im Pointenhagel unterzugehen. Müde winkt selbst der spaßversessenste Leser ab, wenn die Struktur der Witze immer dieselbe ist. Dennoch: "An Evening of Long Goodbyes" ist vergnüglich zu lesen und entwickelt immer wieder neuen Schwung. Ein Unterhaltungsroman mit ironischem Tiefgang.

Paul Murray: An Evening of Long Goodbyes
Roman
Aus dem Englischen von Wolfgang Müller
Antje Kunstmann Verlag, München 2005
573 S., 24, 90 Euro