Über den Umgang mit einer vertrauten Fremden

Vorgestellt von Cora Stephan · 30.09.2007
Lange Zeit hatte Cyrille Offermans die Augen vor dem Offensichtlichen verschlossen, hatte die Anzeichen für die Demenzerkrankung als altersbedingte Gebrechen gedeutet. In "Warum sollte ich meine demente Mutter belügen?" schildert der Niederländer, wie er seiner Mutter trotz der Krankheit mit Liebe und Respekt begegnete.
"Sie glaubte, es sei Krieg, nicht im übertragenen, sondern im blutig-ernsten Sinn des Wortes. Man habe sie gestern oder vorgestern gefangen genommen. Wie ich denn ungeschoren durch die feindlichen Linien gelangt sei, fragte sie aufgeregt, wie ich sie denn in Gottes Namen hier aufgespürt habe. Sie war davon überzeugt, sie habe etwas verbrochen, aber sie wusste nicht mehr, was; sie sei schuldig gesprochen und werde nun unablässig bewacht."

Man belügt seine demente Mutter nicht – und Cyrille Offermans tut es natürlich auch nicht. Sein Buch mit dem irreführenden Titel, den es auch im niederländischen Original hat, handelt vielmehr vom Lernprozess des Sohnes: wie er durch liebevolle Beobachtung seiner Mutter begriffen hat, dass er sich viel zu lange selbst belogen hat. Der Essayist aus den Niederlanden hat ein Buch gegen die Ignoranz geschrieben, mit der viele Menschen dem Altern und den Alten begegnen: Verdrängung aus Selbstschutz und falsch verstandener Liebe.

"Sie wird halt alt." Was wie eine Entschuldigung klingt, wenn ein Mensch spürbar abbaut, ist nicht eben selten achselzuckende Ignoranz. Dass ein Mensch ab einem bestimmten Alter dieses oder jenes sozusagen naturnotwendig nicht mehr könne, sitzt insbesondere den Jüngeren fest im Hirn. Auch wenn es als freundliche Rücksichtnahme daherkommt, bleibt es Denkfaulheit. Es gibt, was das Altern betrifft, noch unendlich viel zu lernen – vor allem, dass dieser Prozess bei jedem Menschen anders ausfallen kann.

Nein, ein alter Mensch – also ein Mensch über 80 Jahre – ist nicht automatisch ein eingeschränkter, ja beschränkter Mensch. Aber eine Minderheit geht den Gang ins Nirwana, in die Demenz, und das zu durchschauen und von den angeblich "normalen" Altersgebrechen zu unterscheiden, ist nicht einfach. Am wenigsten einfach ist es für nächste Angehörige. Warum das so ist und welche Zeichen man lesen sollte, das beschreibt Cyrille Offermans am Beispiel seiner mittlerweile 96-jährigen Mutter, deren Weg in die Demenz ihm das erste Mal 1996 aufgefallen ist.

Aus der Fülle liebevoller Beobachtungen entsteht Begreifen, und im Nachhinein deutet Offermans, welche Anzeichen er und seine Geschwister zunächst übersehen haben: die Unruhe der Mutter, ihren Bewegungsdrang, die Selbstgespräche beim viel zu häufigen Blumengießen, die Renaissance einer fast kindlichen Gläubigkeit – und die unfreundliche Abwehr, die keines der Kinder zunächst deuten kann. Erst Jahre später begriff Offermans, dass sie sich dem schier wahnsinnig machenden Unvermögen seiner Mutter verdankte, sich selbst zu verstehen:

"Ich begriff, 'dass sie Hilfe brauchte, dass sie aber keine Hilfe ertragen konnte; dass sie sich schrecklich einsam fühlen musste, jedoch von jeder Gesellschaft irritiert war; dass sie sich nach ihren Kindern sehnte, dass ihr aber ihre Kinder wie verändert schienen, wie böse Stiefeltern.'"

Die Welt wurde seiner Mutter fremd, ein schleichender Prozess, zuerst peinigend und krampfartig, später ruhiger verlaufend. Offermans beobachtet den Verlust der Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen, zu präzisieren und zu konkretisieren. Irgendwann halfen auch die Zettel nicht mehr, die überall im Haus angebracht waren mit Gebrauchsanweisungen für die alltäglichen Dinge des Lebens. Was nützen Zettel, wenn man sie nicht liest? Irgendwann wurde das System der unwillkürlichen Bewegungen schadhaft, konnte sie die Treppe nicht mehr bewältigen oder sich selbst anziehen – nicht aus altersbedingter physischer Schwäche, sondern weil auch das prozedurale Gedächtnis auszufallen begann. Jeder Gegenstand wurde ein unüberwindbares Hindernis, jeder Raum eine unüberquerbare Ödnis.

Und eines Tages weigerte sich die alte Frau, ihr Gebiss einzusetzen. Warum? Altersstarrsinn? Pure Unvernunft? Oder hatte seine Mutter, fragt sich der Sohn, ihr Gebiss gar nicht mehr als ihr Gebiss wahrgenommen?

"Weil es nur noch selten aus dem Mund genommen und gereinigt worden war, hatte sie es wahrscheinlich schon eine Zeit lang gar nicht mehr gesehen, lange genug, um es nicht mehr als etwas zu erkennen, das sie bereits mehr als ein halbes Leben lang in ihrem Mund hatte. Was hatte sie denn auch mit diesem seltsamen Ding zu schaffen! Das würde sie doch ganz gewiss nicht in ihren Mund stecken – na danke schön!"

Nachdem sich die Kinder mit der Pflege und Betreuung der Mutter zunächst abgewechselt hatten, blieb irgendwann nur noch eine Lösung übrig. Das Heim. Welches das richtige ist, ist selten leicht zu entscheiden. Zwei Dinge aber sind wesentlich: die Freundlichkeit der Pflegepersonen, ihr Interesse an der Vergangenheit der ihnen anvertrauten Personen, an dem gelebten Leben, das da als alter Mensch vor ihnen sitzt – und das Bemühen darum, ihm ein beruhigendes Daheim-Gefühl zu vermitteln.

"Dazu gehören auch allerlei unbewusst wahrgenommene Gerüche und Geräusche, Spuren von Menschen und Tieren, eingefahrene Bewegungsmuster, Abstände, Proportionen, Temperaturen, kurzum: alles, was wir mit dem Begriff ‚Sphäre’ zu bezeichnen pflegen."

Cyrille Offermans nur 124 Seiten langer Essay ist eine bewegend persönliche und berührend ehrliche Verbindung von Beobachtung und kluger Analyse, ein Vademecum für alle, die Anzeichen für eine Demenz rechtzeitig deuten wollen. Und vor allem für diejenigen, die nach dem ersten Erschrecken wissen möchten, wie man mit dem einst so vertrauten und nun so dramatisch veränderten Menschen umgeht. Offermans zeigt, wie das geht: mit Liebe und Respekt.

Cyrille Offermans: Warum sollte ich meine demente Mutter belügen?
Aus dem Niederländischen von Walter Kumpmann
Antje Kunstmann Verlag, München 2007
Cyrille Offermans: "Warum sollte ich meine demente Mutter belügen?"
Cyrille Offermans: "Warum sollte ich meine demente Mutter belügen?"© Antje Kunstmann Verlag