Über den Rand der Landkarte gucken

Von Mithu Sanyal · 11.04.2012
Immer mal wieder hat er versucht, länger an einem Ort zu bleiben, in Marrakesch, Havanna und Wien, aber sesshaft geworden ist der 1952 geborene Hesse bis heute nicht: Timmerberg kann einfach nicht länger an einem Ort zu bleiben.
Helge Timmerberg kommt zum Interview ins Café und fragt erst einmal: "Ich darf 'ne Zigarette rauchen, ne?" Denn Helge Timmerberg ist berühmt als Raucher, Reisender und Raconteur.

"Bei mir war Schreiben und Reisen Minimum 50/50. Und oft war es auch so, dass mir das Reisen noch wichtiger war als das Schreiben, und ich das Reisen dann nur durch Schreiben finanziert habe."

Mit seinen schulterlangen Haaren und dem freundlichen Überbiss sieht Helge Timmerberg aus wie eine Hippieversion von Alexander von Humboldt. Tatsächlich setzte der Verlag ihn in derselben Pose wie das Denkmal vor der Humboldtuniversität in Berlin auf das Titelbild seines vorletzten Buches. Doch das war noch gar nichts. Der Umschlag des Buches davor zeigte ihn als Shiva, den blauen indischen Gott der Zerstörung. Das und die Tatsache, dass Timmerbergs Texte immer von Timmerberg handeln, wird ihm gerne als Eitelkeit vorgeworfen. Dabei muss man nicht "ich" schreiben, um eitel zu sein. Er selbst nennt seine strategische Verwendung der ersten Person "Entheuchelung". Da Autoren Menschen sind, sollte man diese Menschen auch in ihren Texten erkennen können.

"Die erste Indienfahrt, das war 69 und da bin ich über Land gefahren. Und vorher war halt ein Jahr lang LSD und darum musste ich auch nach Indien. Ich wollte eigentlich nicht reisen, ich musste fliehen. Ich hab oft überlegt, wieso: Ich musste einfach raus aus Deutschland. Ich fand‘s hier nicht langweilig, ich fand‘s grauenhaft. Also auch auf die Gefahr hin, dass ich dann abschweife: Aber es gab 68 eigentlich zwei Jugendbewegungen. Die hat sich geteilt. Und die einen haben angefangen zu kiffen und die anderen haben Rotwein getrunken und …auf die Straße und …Barrikaden. Es gab so ein paar Dinge, die für beide galten, das war zum Beispiel Tramper mitnehmen. Und da kam ich dann relativ flott bis Istanbul."

Wie flott ist flott? - "Wie flott ist flott?"

Bis er schließlich in Indien ankam, brauchte er drei Monate. Zwischendurch ging ihm mehrfach das Geld aus und er bekam Gelbsucht. Ansonsten sind schlechte Drogen, Schlafstörungen, ein abgebrochener Zahn und manchmal auch einfach nur Langeweile der Preis, den Timmerberg für seine Reisen zahlt. Er beschönigt das an keiner Stelle. Warum macht er das also überhaupt?
"Es ging eigentlich dann doch nur um Erleuchtung."

Und gab es eine Erleuchtung?

"Ja, es gab dann 'ne Erleuchtung, aber 'ne ganz andere, als ich vermutet hatte. Als ich nun endlich angekommen bin und am Fuß des Himalaya in einem Ort namens Harid war - das ist sowieso ein sehr heiliger indischer Ort, also wird ja hoch gehandelt - und da war ich in einen Ashram dann eingezogen. Und ich hab da zwei Wochen meditiert und eine sehr, sehr laute Stimme vernommen, wo ich dachte: 'Die kommt von draußen.' Heute denke ich: 'Das war 'ne sehr laute innere Stimme.' und die hat gesagt: 'Geh bloß zurück nach Hause und werd Journalist!'"

Ob die Geschichte mit der Erleuchtung wahr ist? Wahrscheinlich. Wahr ist aber auch, dass sie nach über 40 Jahren zu Literatur geworden ist, wie all die anderen Geschichten aus seinem Leben. Mit seinem Stil, der so subjektiv ist, dass er schon wieder objektiv wird, ist Helge Timmerberg inzwischen der bekannteste deutsche Vertreter des New Journalism. Er war einer der Starautoren von "Tempo", dem Magazin, das es sich zur Aufgabe gemacht hatte, diesen amerikanischen Reportagestil zwischen Literatur und Journalismus nach Deutschland zu importieren. Zuersteinmal importierte er sich jedoch selbst von Indien nach Deutschland zurück und ging schnurstracks zu der Tageszeitung in seiner Heimatstadt.

"Sagt die Frau am Empfang: 'Was können wir für Sie tun?' Ich sag: 'Ich will Journalist werden.' Haben die gesagt: 'Ok, suuuper, aber das ist hier die Anzeigenabteilung. Sie müssen vielleicht 'mal da hoch zur Redaktion.' Und ich die Treppen hoch zur Redaktion. Und an die Treppe erinnere ich mich unheimlich gut. Das ist so ein Bild, wo ich immer wieder durchgehen kann."

Nach weiteren falschen Ansprechpartnern, kam er schließlich zu dem Chefredakteur, der in allem das Gegenteil zu ihm war. Helge Timmerberg mit wallenden weißen Gewändern und langen Haaren auf der einen Seite, der Chefredakteur im Anzug mit korrekter Frisur auf der anderen.
"Das war so ein richtiger klassischer Knochen. Und über ihm die Uhr fünf vor sechs, kurz vor Deadline. 'Was wollen sie?' - 'Ich möchte Journalist werden.' - 'Ach so, und warum?' - 'Ja, ich war in Indien und da kam ich da durch die innere Stimme.' - 'Ach so, die innere Stimme, und sonst? Studium? Abitur?' - 'Nö, eigentlich nicht.' Und der Typ schmiss mich einfach nicht raus. Und dann sagt er nochmal: 'Wie heißen sie?' Und dann hab ich noch mal meinen Namen genannt und dann wurde klar, dass er so ein Saufkumpane von meinem Vater war. Und das hat dann die Tür sofort geöffnet, insofern, dass er sagte: 'Ja, schreib mal so fünf Probeartikel und dann schauen wir."

Der ersten Erleuchtung folgten weitere. Mindestens eine pro Buch. Bei elf Büchern ergibt das eine ganze Menge. Aber die Suche geht weiter. Ebenso wie die Reise. Eine Weile versuchte Helge Timmerberg in Marrakesh sesshaft zu werden, hat das Experiment aber inzwischen wieder abgebrochen und wohnt in Wien, Berlin und St Gallen, aber eigentlich in Hotelzimmern auf der ganzen Welt. So viel Erleuchtungssuche bleibt nicht folgenlos.

"Über Jahre erreichten mich immer so Postkarten von irgendwelchen Plätzen, wo ich denke: 'Eh, die kenne ich doch irgendwoher.' Und dann schrieb mir immer ein und derselbe: So, jetzt bin ich genau da, wo du doch auch gewesen bist. Also du schreibst Geschichten, aber du bist dir nicht bewusst, dass dich Leute kennen. Und der kannte mich super, aber ich hatte überhaupt keine Ahnung, wer das war. Dirk, ja Dirk. Und dann hat der mich mal vor zehn Jahren aufgetrieben und dann sind wir sehr gute Freunde geworden. Das ist ein Supertyp. Der hatte Abitur gemacht und verließ nun seinen Heimatort, um die Uni anzufangen, und auf dieser Zugfahrt hatte er eine Geschichte von mir gelesen im Tempo, und ja, dann ist er nicht zur Uni gegangen und hat sofort angefangen zu reisen."
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