Udo Pollmers Mahlzeit

Warum Natürliches nicht immer gesund ist

Aufnahme des Fadenwurms Onchocerca volvulus nodule.
Möglicherweise die Ursache für das Nicksyndrom: der Fadenwurm Onchocerca volvulus. © imago / CDC / Dr. Mae Melvin
Eine Kolumne von Udo Pollmer · 15.06.2018
Natürlich leben und essen: Das muss gut sein, wird häufig angenommen. Das stimmt nicht immer, meint Udo Pollmer und belegt dies am Nicksyndrom: Auf der Suche nach der Krankheitsursache sorgte beispielsweise gerade ein Mehr an Vitamine für Unheil.
Dort wo die Menschen noch im Einklang mit der Natur leben, seien sie auch gesünder, so ein landläufiges Vorurteil. Leider ist in Naturgesellschaften die Kindersterblichkeit hoch. Im Norden Ugandas und im Südsudan beispielsweise leiden viele junge Menschen am Nicksyndrom. Es beginnt mit unkontrolliertem Kopfnicken, dann folgen Krämpfe, schließlich versinken die Opfer in völliger Apathie. Da westliche Therapeuten mit ihrem Latein schnell am Ende waren, vermuteten sie reflexartig einen Mangel an Vitaminen, fehlende Impfungen und Kriegstraumata.

Auf der Suche nach der Krankheitsursache

Das waren leider falsche Fährten mit denen viel Zeit und Geld verplempert wurde. Seit Kurzem ist die Fachwelt überzeugt, endlich die Ursache zu kennen. Verantwortlich für das Nicksyndrom ist, so das Ergebnis des ersten Internationalen Workshops in Antwerpen, die wichtigste Krankheitsursache in tropischen Gefilden überhaupt: nämlich Parasiten. In diesem Falle noch dazu ein alter Bekannter, ein Fadenwurm namens Onchocerca volvulus. Er war bisher vor allem als Erreger der Flussblindheit populär. Weltweit gelten bis zu 40 Millionen Menschen als infiziert.
Ausgewachsen erreicht der Parasit eine Länge von einen halben Meter, ist dabei aber dünn wie ein Faden. Übertragen wird er als winzige Larve durch Kriebelmücken. Die Larven wachsen meistens unter der Haut in Gruppen zu Würmern heran – und verursachen Hautkrankheiten. Wandern sie bis in die Augen, verlieren die Opfer ihre Sehkraft. Der Name Flussblindheit leitet sich von dem weiteren Umstand ab, dass die Kriebelmücken gerne Fließgewässer aufsuchen.

Fälschlich als Kriegstrauma diagnostiziert

Nun hofft die Fachwelt, mit dem Parasitenmittel Ivermectin nicht nur die Flussblindheit zu besiegen, sondern zugleich auch das Nicksyndrom zu heilen. Womöglich ist das der Türöffner für weitere Therapien. Wenn der Fadenwurm sich im Gehirn häuslich einrichtet, sind schwerwiegende neurologische und psychiatrische Störungen zu erwarten. Inzwischen gilt Onchocerca auch als eine Ursache von Epilepsie. Wie viele Nervenleiden mögen noch auf ihr Konto gehen?
Das erklärt nebenbei, warum die Krankheit vor allem in Gebieten ausbricht, in denen der Krieg wütete. Nicht etwa Traumata führen zum Nicksyndrom, sondern der Zusammenbruch der inneren Ordnung und damit der Hygiene. Gewöhnlich fordern Parasitosen und Seuchen mehr Opfer als die Kriegshandlungen selbst. Während des 20jährigen Bürgerkrieges in Ostafrika kamen die Programme zur Ausrottung des Fadenwurms zum Stillstand, daher dort die Kranken.

Vitamine halten den Fadenwurm fit

Neben Ivermectin wird noch ein zweites Medikament verordnet, nämlich ein Tetracyclin, also ein Antibiotikum. Das vermag natürlich keine Fadenwürmer abzutöten, dafür aber einen blinden Passagier, der lange Zeit übersehen wurde: die Wolbachia, ein parasitäres Bakterium. Sie ist der eigentliche Übeltäter. Denn sie befällt die Fadenwürmer und lässt sie nach ihrer Pfeife tanzen. Weil Wolbachia das Verhalten ihrer Opfer nach Belieben manipuliert, treten je nachdem andere Symptome auf. Behandelt man den infizierten Wurm im Patienten mit Antibiotika, nehmen die Nick-Anfälle ab.
Allerdings gibt es, wie so oft, auch eine Verbindung zur Ernährung. Und wie so oft, ganz anders als erwartet. Von einer Extraportion der Vitamine B2 und Biotin profitiert vor allem das Immunsystem der Wolbachia. Vitamine halten auch die Fadenwürmer fit – und nicht nur diese Sorte von Parasiten. Begehrt ist vor allem Folsäure und Vitamin A. Viele Parasiten können diese Stoffe nicht selbst synthetisieren, sondern fischen sie aus dem Blut ihrer Opfer, die dadurch niedrigere Vitaminspiegel aufweisen können. Das Vitamin A wandeln sie in giftige Formen um wie die Retinolsäure, mit der sie die Zellmembranen angreifen. Wenn die Parasiten absterben, wird das Gift freigesetzt.
Da man zunächst nicht wusste, was die Krankheit heilt, erhielten Kinder mit Nicksyndrom von den Helfern "vorbeugend" Extravitamine. Das hätten sie besser bleiben lassen. Mit etwas mehr Fachwissen und weniger Wundergläubigkeit wäre den betroffenen Familien einiges Leid erspart geblieben. Mahlzeit!
Literatur:
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