Udo Pollmers Mahlzeit

Erwartungsfroh ins Gras beißen

Kamut-Getreide in einem Bio-Supermarkt
Kamut-Getreide in einem Bio-Supermarkt © dpa / picture alliance / Frank Rumpenhorst
Von Udo Pollmer · 01.06.2018
Statt Brotweizen kommt bei manchen Zeitgenossen das modische "Urgetreide" auf den Tisch − Getreidearten aus einer Zeit, in der der Hunger noch Stammgast war. Erhebliche Umsätze erzielt ein Sommerweizen namens Kamut.
Wir leben in einer Zeit, in der hierzulande niemand mehr hungrig zu Bett gehen muss. Manchen Zeitgenossen erfüllt das mit Dankbarkeit. Viele jedoch beschleicht dabei das Gefühl eines unverdienten Glücks, aus dem irgendwo der Pferdefuß des Bösen hervorlugen muss.
Längst haben die Ernährungspäpste ihren Kampf gegen die Verlockungen des Teufels aufgenommen, unerbittlich verfolgen sie Esssünden wie Pizzen, Limos und Pommes. Nun gerät sogar unser täglich Brot auf den Index der verbotenen Speisen: Das Eiweiß im Weizen, das Gluten führe zur Zöliakie, das Gedärm entzündet sich; die Stärke im Mehl lasse die sprichwörtliche Weizenwampe wachsen und dem Korn insgesamt ermangele es durch "Überzüchtung" an Vitaminen, Mineralstoffen und anderen noch heiligzusprechenden Gesundmachern.

Sehnsucht nach Naturbelassenheit

Nun suchen viele Bußfertige nach einer "Alternative" ohne Pferdefuß. Statt Brotweizen kommt nun "Urgetreide" auf den Tisch, also Getreidearten aus einer Zeit, in der der Hunger noch Stammgast war. Aus Sicht der Verkäufer stillt der Boom der Urgetreide die Sehnsucht nach "Nachhaltigkeit, Naturbelassenheit, Authentizität, Genuss, Rückbesinnung auf Traditionen".
Da der Begriff "Urgetreide" fachlich nicht hinterlegt ist, wird der Dinkel unbekümmert dazu gezählt. Dabei unterscheidet sich Dinkel weder in der Intensität des Anbaus noch in seiner Anfälligkeit noch im Ertrag von anderen High-Tech-Weizensorten. Durch Besprühen mit halmverkürzenden Hormonen verträgt die Pflanze mehr Stickstoffdünger, Unkrautvernichter schlagen Konkurrenten aus dem Feld, Pyrethroide schützen das Blatt vor Viren. Die Mittel können zwar den Viren direkt nichts anhaben, aber sie töten Insekten und verhindern so eine Übertragung durch Zikaden und Läuse. Bedrohlich sind vor allem Pilzkrankheiten, aber zum Glück gibt es noch wirksame Fungizide.
Der Dinkel hat ältere Getreidevarietäten verdrängt, nämlich Einkorn und Emmer, die nun ebenfalls als "Urgetreide" angeboten werden, wenn auch nur in minimalen Mengen. Ihr Anbau musste aufgegeben werden, weil der Ertrag zu gering war, die Ernte zu unsicher und die Mehlqualität zum Brotbacken zu unbefriedigend. Sie wurden aber gern an Pferde verfüttert. Da die Pflanzen bis zu 1,50 Meter in die Höhe wachsen, knicken sie leicht um, was den Ertrag schmälert. Heute können die Halme wenigstens mit Hormonen gestaucht werden, was die Standfestigkeit verbessert.

Das Unkraut jätet heute die Chemie

Unverzichtbar ist ein massiver Einsatz von Herbiziden, weil das Unkraut viel schneller wächst als die sich langsamer entwickelnden Pflänzchen von Emmer und Einkorn. Früher wurde das Unkraut noch von Frauen und Kindern gejätet, eine echte Knochenarbeit, heute gibt’s dafür zum Glück Chemie. Große Hoffnungen setzt die Branche in die neuen Züchtungsmethoden, um alte Sorten schnell an die Erfordernisse einer modernen Produktion anzupassen. Dann könnten Einkorn und Emmer wieder interessant für Grenzertragsböden werden.
Erhebliche Umsätze erzielt ein "Urgetreide" namens Kamut. Kamut ist der geschützte Markenname für einen Sommerweizen, der in den USA für den deutschen Markt angebaut wird. Angeblich wurde das Getreide im Grab eines ägyptischen Pharao in einer Steinkiste entdeckt. Doch erstens zeigen genetische Analysen, dass Ägypten sicher nicht der Ursprung dieses Weizens ist, zweitens bleibt das Saatgut maximal zwei Jahrhunderte keimfähig aber nicht Jahrtausende und drittens gibt es den angeblichen Fundort gar nicht. Immerhin zeugt es von geschicktem Marketing, sich dafür ein altägyptisches Wort als Markenname schützen zu lassen.
Korrekt heißt die Pflanze Khorasanweizen, weil sie ursprünglich aus der gleichnamigen Provinz im Nordosten des Irans stammt. Sie liefert Körner, die doppelt so groß sind wie üblich. Botanisch handelt es sich um eine Hybride aus Hartweizen und Polnischem Weizen.
Unsere Getreidearten stammen von Gräsern ab, deren Halme ein paar kleine, schwer verdauliche Körner trugen, gerade genug, um die Art zu erhalten. Wem der Gusto nach echtem, unverfälschtem Urgetreide steht, mag erwartungsfroh ins Gras beißen. Mahlzeit!
Literatur:
Siedler H: Dinkel: Hohe Erträge mit intensivem Anbau. Top agrar südplus 2015; (H.3): 18-21
Anon: Was ist Urgetreide? Brot & Backwaren 2017 (H.2) 30-31
Lobitz R: Urgetreide – mehr Schein als Sein? Ernährung im Fokus 2018; (3-4): 114-119
Lembacher F, Schally H: Emmer & Einkorn. Landwirtschaftskammer Niederösterreich, St. Pölten, Sept 2015
Habeck B, Longin F: Emmer erfolgreich in den Markt einführen? Backtechnik 2014 (2) 60-66
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Mielke H, Rodemann B: Zum Anbau und Pflanzenschutz bei der seltenen Weizenart Einkorn (Triticum monococcum). Nachrichtenblatt des Deutschen Pflanzenschutzdienstes 2007; 59: 162-165
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