TV in Russland

Sex, Klatsch und viel Propaganda

Russlands prominente Sex-Beraterin im Fernsehen: Anfisa Chekhova.
Russisches Fernsehen will die Zuschauer auch mit Sex anlocken (hier Anfisa Chekhova, die berühmteste TV-Sex-Beraterin des Landes). © imago
Von Boris Schumatsky · 25.05.2016
Das russische Fernsehen ist weitgehend unter staatsnaher Kontrolle. Aber anders als zu Sowjetzeiten, als staatstragende Medien öde und langweilig waren, wird die Propaganda heute in beliebte Unterhaltung verpackt - die einen großen Teil der Bevölkerung erreicht.
"Die führenden russischen Fernsehsender überfluten die Zuschauer mit Propaganda", stellt die Journalistenorganisation Reporter ohne Grenzen fest. Ein Mann aus St. Petersburg erzählte dem unabhängigen Medienportal "Colta.ru", warum er in den Krieg gegen die Ukraine zieht.
"Ich habe mich endgültig dafür entschieden, als ich im Fernsehen einen Jungen im Krankenhaus von Slawjansk sah. Damals zeigten sie diese Bilder immer wieder. Natürlich verstehe ist, dass die Korrespondenten ihr Brot nicht umsonst essen. Sie haben sehr gekonnt die Leiden des Kindes gefilmt, aber dieser Blick von ihm – der hat mir den Rest gegeben."
Für den Fernsehjournalisten Maxim war das dagegen der Grund, die Branche, in der er fast zwei Jahrzehnte tätig war, zu verlassen.
Heute sitzt Maxim, seinen weißen Schal um den Hals geschwungen, in einem feinen Cafe im Zentrum Moskaus. Der Mittfünfziger redet mit der Lässigkeit eines Medienprofis, zugleich möchte er nur mit einem Pseudonym vorgestellt werden. Mit der Fernsehwelt habe er zwar nichts mehr zu tun, doch das, was er erzählt, könnte ihn auch persönlich in Gefahr bringen.
"Natürlich habe ich Angst um mein Leben, aber ich habe auch einfach Angst, wenn ich sehe, wie weit sich dieses Land von dem entfernt hat, wie ich leben möchte. Es ist eine Katastrophe. Seit der Ukraine-Krise und nach der Eroberung der Krim beobachten wir einen Bruch aller ethischen Prinzipien unseres Berufs. Meine ehemaligen Kollegen sind zu Betreibern einer Propagandamaschine geworden, an der seit den ersten Tagen nach Putins Machtantritt gebaut wird. Sie erwarten stets eine klare Anweisung, wen sie heute 'kaltmachen' sollen, oder, wie sie auch unter sich sagen, 'wen wir heute lieben sollen'."
Nachdem Boris Jelzin 1999 Wladimir Putin zu seinem Nachfolger bestimmt hatte, stellte der neue Präsident das Fernsehen des Landes nach und nach unter seine Kontrolle. Als letzter von den großen überregionalen Sendern verlor 2001 das russische NTW seine Unabhängigkeit. Jetzt gehört etwa ein Dutzend "föderaler Fernsehkanäle", wie sie im Volksmund heißen, entweder direkt dem Staat, den Vertrauten des Präsidenten oder einigen mit dem Staat verbundenen Firmen wie "Gazprom-Media".
"In dieser Realität gibt es einen Menschen, auf den immer Verlass ist, der fast keine Schwächen hat. Das ist Putin. Sein Image wurde von Anfang an so aufgebaut. Das Fernsehen zeigte Putin als resoluten Mann, der nicht trinkt und einen gewissen Charme besitzt. Das ist natürlich ein virtueller Putin, denn niemand weiß, wie er wirklich ist. Es gibt kaum Aufnahmen von Putin, die nicht zensiert sind. Als Putin eine Glatze bekam, war es anfangs verboten, sie zu zeigen. Wenn ein ungeschickter Kameramann sie trotzdem filmte und wenn die Aufnahmen versehentlich ausgestrahlt wurden, wurde das wie ein Amtsdelikt geahndet."

Europa wird als "Gayropa" bezeichnet

In den letzten Jahren macht das Fernsehen zunehmend Stimmung gegen die westlichen Länder. Gegen das angeblich dekadente Europa, das als "Gayropa" verhöhnt wird, vom englischen Wort "gay", schwul. Aber besonders schwarz malt das Fernsehen den alten, neuen Feind, die USA.
"In der virtuellen Realität ist uns die Außenwelt feindlich gesonnen. Die anderen Länder haben angeblich nur so getan, als wären sie Freunde, aber wir waren wachsam, wir durchschauten sie, und nun wissen wir, dort kann es mit Sicherheit keine Freunde geben."
Der junge Fernsehjournalist Artem Loskutov – er arbeitet beim letzten unabhängigen Fernsehsender Russlands, Doschd. Dort verdient man nicht so viel wie beim Staatsfernsehen. Artem trinkt deshalb in der Mittagspause seinen Kaffee in einer preiswerten Kette.
Der Propaganda sollte nicht mit Verboten begegnet werden, ist Artem überzeugt, sondern mit alternativen Meinungen. Doch diese sind in Russland kaum wahrnehmbar. Das Staatsfernsehen wird von über 99 Prozent der 146 Millionen Russen empfangen. Meinungsumfragen zeigen seit Jahren, dass über 77 Prozent der Zuschauer dem Staatsfernsehen vertrauen.
Es ist eine Generation herangewachsen, die keine andere Realität kennt, sagt der frühere Fernsehmacher Maxim.
"Die meisten jungen Redakteure, Journalisten oder Reporter beim Fernsehen stehen gar nicht direkt unter Druck von oben. Ich habe sie oft sagen hören: "Wenn man für ein staatliches Medium arbeitet, soll man die staatliche Meinung vertreten". Sie erfüllen mit Vergnügen den fremden Willen, weil sie ihn für ihren eigenen halten. Sie glauben aufrichtig an die wichtigsten Postulate der Propaganda, an die Außergewöhnlichkeit der russischen Nation und an die Ideologie der Gewalt, die für sie der einzig richtige Weg ist, weil die Westler sowieso alle Weicheier seien."
Hochgestellte Fernsehfunktionäre wie Dmitrij Kisseljow halten sich dagegen gerne in Europa oder den USA auf. Viele besitzen dort Immobilien und oder bezahlen ihren Kindern das Studium an westlichen Hochschulen. Kisseljow und andere Propagandachefs waren am Anfang ihrer Kariere in der Zeit Jelzins alle Demokraten.
"Ich kenne viele von ihnen persönlich, und ich weiß, wie gut informiert sie sind und wie intelligent. Ich kann ihnen mit absoluter Sicherheit eine Diagnose stellen: die des unendlichen Zynismus."

'Das Gesindel frisst alles'

Das russische Fernsehen setzt auf Gefühle. Es spricht den Zuschauer mal sehr ernst, dann wieder mit Augenzwinkern an. Es ist nie eintönig und immer unterhaltsam. Die russischen Fernsehzuschauer verbringen im Durchschnitt über vier Stunden am Tag vor dem Bildschirm, angelockt durch Unterhaltung vielfältigster Art – Gewalt, Sex und Klatsch.
Und vieles wird mit politischer Tendenz durchsetzt: Eine Comedy-Show, in der westlichen Transvestiten verhöhnt werden. Sogar der Wetterbericht wird politisiert.
"Im Donbas, wo die Krise der ukrainischen Regierung weiterhin zur Zuspitzung der Lage beiträgt, ist heute Regen möglich. Auf die ruhige Krim kommt dagegen früher als erwartet das wärmere Wetter."
In den Werbepausen beliebter Serien werden regelmäßig Annoncen politischer Programme geschaltet, die während der Prime-Time laufen. Die Propaganda ist so allgegenwärtig und subtil, so Maxim, wie sie nicht einmal in der Sowjetzeit war.
"Das Sowjetfernsehen, wie ich es in der Zeit des Generalsekretärs Breschnew erlebte, war nicht gefährlich - es war einfach öde. Es war langweilig, und man lachte über dieses Fernsehen genauso wie man über den alternden Generalsekretär lachte. Es war nie ein so starkes Werkzeug wie es unter Putin wurde."
Ein ehemaliger Kremlbeamter, der Putin persönlich kennt, sagte im vergangenen Jahr dem britischen Guardian:
"Wer das Fernsehen kontrolliert, kontrolliert das Land. Wenn die Kommunisten an die Macht kommen, wird das Land innerhalb von drei Monaten kommunistisch. Kommen Faschisten an die Macht, wird es innerhalb von drei Monaten faschistisch."
Drei Monate würden reichen, um die Leute nicht wieder zu erkennen, pflichtete ihm ein Moskauer Beamter bei in einem Gespräch mit dem Fernsehsender Doschd.
Diese Überzeugung scheint die russische Regierungselite zu teilen. In der Fernsehwelt sage man dazu plump, "das Gesindel frisst alles", erzählt Maxim.
"Es entspricht der Überzeugung der Fernsehchefs, dass sie ihr Programm für einen Abschaum machen, der genau das fressen will. Sie meinen damit den Massenzuschauer und seine Bedürfnisse. Aber wenn wir über die virtuelle Realität reden, die innerhalb der letzten fünfzehn Jahre im Fernsehen erschaffen wurde, ist es sehr wichtig, folgendes zu verstehen: Diese Realität wurde gar nicht allein für den Massenzuschauer geschaffen, sondern sogar in erster Linie für den wichtigsten Fernsehzuschauer des Landes. Die Fernsehmacher wollen ihrem obersten Chef genau das zeigen, was er sehen will. Ein Theater für Putin."

Keine Gefangenen im Krieg

Mit der Ausnahme von Doschd ist das Fernsehmonopol des Kremls ungebrochen, während der kleine Sender zunehmend unter Druck gerät. Kürzlich verlor Doschd sein Studio und musste vorübergehend aus den Privatwohnungen seiner Mitarbeiter senden.
"Der Fernsehkanal Doschd ist wie eine Fliege, die gegen den Putinschen Wind fliegt. Eine Fliege kann jeden Moment erschlagen werden. Und das, obwohl die Reichweite dieses Senders ohnehin so gering ist, dass er die Stabilität des Systems in keiner Weise beeinträchtigen kann."
Der Fernsehsender Doschd wirbt mit dem Motto 'Der optimistische Kanal', aber der Doschd-Mitarbeiter Artem Loskutov sieht die Lage nicht optimistischer als sein älterer Kollege.
"Schön wäre es, wenn es uns noch länger gäbe, denn es gibt nichts Vergleichbares in der Fernsehlandschaft. Niemand sonst kann heute Fernsehnachrichten anbieten, in denen auch alternative Standpunkte beleuchtet werden. Keine Ahnung, wie lange das noch möglich sein wird. Sie können morgen schon zu uns kommen unter dem Vorwand einer beliebigen Überprüfung und alles abschalten."
In Russland tobt ein Krieg, scherzt der Volksmund: Der Krieg zwischen dem Fernseher und dem Kühlschrank. Die Wirtschaft kriselt - und die Intensität der Propaganda steigt an. Der Rubel fällt und die Beliebtheit von Putin erreicht einen Höchststand. Immer neue Soldaten, die in der Ukraine gefallen sind, werden heimlich begraben - und das Fernsehen mobilisiert zugleich Hunderte neuer Kämpfer.
Der Freiwillige aus St. Petersburg, den solche Bilder in die Ukraine führten, kam inzwischen zurück. Er erzählte, dass er im Krieg keine Gefangenen machen wollte. Er erschoss sie alle bis auf drei, so stark war sein Hass.
Mehr zum Thema